Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Wenn man nur verschiedenartige, doch uninformierte Leute zu einer Gruppe zusammenfasst, wird ihre kollektive Weisheit größer sein als die eines Fachmanns. Wohl aber: Wenn man eine Gruppe aus verschiedenartigen Personen mit unterschiedlichem Wissensstand und der Einsicht bildet, fährt man besser, ihnen wichtige Entscheidungen anzuvertrauen, als wenn man diese einem oder zwei Menschen überlässt, ganz gleich, wie gescheit er oder sie sein mögen. Wenn es uns schwer fällt, das zu glauben – in der gleichen Weise, wie es schwer fällt, den Aussagen von March Glauben zu schenken -, so deshalb, weil es unseren Grundannahmen über Intelligenz und die Führung von Geschäften zuwiderläuft. Zu erklären, das Unternehmen mit den klügsten Leuten sei vielleicht doch nicht das beste Unternehmen, wirkt ketzerisch, vor allem in einer Geschäftswelt, die in einen unentwegten »Kampf um Talente« verwickelt und von der Annahme beherrscht ist, dass der Unterschied zwischen einem exzellenten und einem mittelmäßigen Unternehmen von einigen wenigen Superstars abhängt. Doch ob ketzerisch oder nicht: Es ist die Wahrheit. Fachwissen und -kompetenz werden in vielen Zusammenhängen überbewertet.
Nun gibt es zweifelsohne wirkliche Experten. Die Spielweise eines großen Schachmeisters unterscheidet sich qualitativ vom Spiel eines bloß kompetenten. Ein Meister betrachtet das Schachbrett anders, er verarbeitet Informationen anders, und er erkennt bedeutsame Spielkonstellationen sozusagen auf einen Blick. Wenn man einem Schachexperten und einem Laien ein Brett mit einem gerade laufenden Spiel zeigt, wird Ersterer aus dem Gedächtnis den gesamten Spielverlauf rekonstruieren können, Letzterer dagegen nicht. Herbert A. Simon und W. G. Chase haben es in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts nachgewiesen. Zeigt man dem gleichen Profispieler jedoch ein Brett mit willkürlich und zufällig platzierten Figuren, wird er die Spielgestaltung nicht nachzuvollziehen vermögen. Das ist ein eindrucksvoller Beleg dafür, wie gründlich sich die Regeln des Schachspiels ins Bewusstsein erfolgreicher Spieler eingeprägt haben. Es demonstriert freilich auch, wie eng der Rahmen solch eines Fachwissens ist. Ein Schachexperte kennt sich mit Schach aus, und damit hat sich’s. Wir nehmen intuitiv an, dass Intelligenz übergreifend sei und dass Menschen, die in einem geistigen Bereich hervorragend sind, es auch sonst seien. So ist das aber mit Experten nun einmal nicht. Die fundamentale Wahrheit lautet: Sachverstand und fachmännisches Können sind, um W. G. Chase zu zitieren, geradezu »spektakulär eng begrenzt«.
Wichtiger noch: Es gibt keine ernsthafte Bestätigung dafür, dass irgendjemand in Bezug auf so allgemeine, umfassende Dinge wie »Entscheidungsfindung« oder »Strategie« überhaupt zum Fachexperten werden kann. Für Automechanik, Skifahren, vielleicht sogar für Management, ja: Das sind Tätigkeitsfelder, die sich mit Fleiß, hartem Arbeiten und angeborener Begabung erschließen. Doch eine ungewisse Zukunft vorauszusagen und in dieser Hinsicht den richtigen Kurs festzulegen – für dergleichen dürfte es aller Wahrscheinlichkeit nach mangeln. Und vieles von dem, was wir in diesem Buch bisher erkannt haben, weist darauf hin, dass eine aus verschiedenartigen Leuten zusammengesetzte Gruppe mit besseren, verlässlicheren Prognosen hervortreten und intelligentere Entscheidungen treffen wird als selbst der kompetenteste Entscheidungsträger.
Uns allen sind natürlich völlig absurde Zukunftsprognosen von Industriekoryphäen vertraut. Da ist Harry Warner von Warner Bros. mit seinem Ausruf aus dem Jahr 1927: »Wer zum Teufel wird Schauspieler sprechen hören wollen?« Oder ein Thomas H. Watson von IBM, der 1943 prophezeite: »Ich glaube, dass es einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer gibt.« Man kann dergleichen als amüsante Ausrutscher abtun; dass einige blitzgescheite Leute im Zeitraum eines Jahrhunderts ein paar dumme Sprüche von sich geben, sollte uns nicht wundern. Das ist nun mal so. Was aber nicht einfach so abgetan werden kann, ist die erbärmliche Leistungsbilanz der meisten Experten.
So haben fast 90 Prozent der Investmentfonds-Manager über den Zeitraum von 1984 bis 1999 die relativ niedrige Marke des Wilshire-5000-Index unterschritten. Bei den Managern festverzinslicher Wertpapiere sieht es kaum besser aus: In der jüngsten Fünfjahresperiode sind über 95 Prozent von ihnen unter Marktniveau geblieben. Professor J.
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