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Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Titel: Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Surowiecki
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Maschinenschlosser auf dem Spiel stand, die zudem eine eng zusammenhängende Gemeinschaft bildeten, war Sellers klar, dass eine Änderung des Kundenverhaltens sich nur über Beziehungen und Einfluss bewirken lassen würde. Aus dem Grund nahm Sellers in den folgenden neun Jahren besonders einflussreiche Abnehmer wie die Pennsylvania Railroad und die US-Marine ins Visier; und so gelang es ihm, der Kampagne für seine Schraube Gewicht zu verleihen. Mit jedem neuen Kunden wurde der Erfolg der Sellers-Schraube augenscheinlicher. Binnen eines Jahrzehnts war sie auf dem Weg zur landesweiten Norm. Ohne sie wäre eine Fließbandproduktion bestenfalls schwierig, schlimmstenfalls völlig unmöglich gewesen. In gewissem Sinne hat William Sellers also die Grundlagen der modernen Massenproduktion geschaffen.
    Sellers’ Normschraube bietet ein Beispiel für die positiven Auswirkungen solcher Kaskaden. Designmäßig war sie ihrem Hauptkonkurrenten, einer britischen Schraube, in jeder Hinsicht überlegen. Und für die amerikanische Wirtschaft bedeutete die Annahme der Normschraube einen Riesensprung nach vorn. Diese Geschichte enthält allerdings auch ein beunruhigendes Moment: Wenn die Schraube von Sellers zur US-Norm wurde, weil er dank seines enormen Einflusses und seiner fachlichen Autorität eine Informationskaskade auszulösen vermochte, war es schließlich vielleicht bloß ein Glücksfall, dass sein Produkt auch ein gutes war. Und wenn die Maschinenschlosser sich letztlich der Initiative von Sellers anschlossen, statt sich auf ihr eigenes Urteil über die beste Schraube zu verlassen, war es purer Zufall, dass sie die richtige Antwort auf ein Problem fanden.
    Anders ausgedrückt: Sollten die meisten Entscheidungen zur Annahme neuer Technologien oder gesellschaftlicher Normen durch Kaskaden zustande kommen, so besteht kein Anlass zu glauben, dass wir Menschen gute Entscheidungen treffen. Kollektive Entscheidungen sind am ehesten dann gute Entscheidungen, wenn sie von Leuten mit verschiedenartigen Informationen in voneinander unabhängiger Folgerung erreicht werden. Auf Kaskaden trifft nichts davon zu. Ihr Verlauf wird von einigen wenigen einflussreichen Personen bestimmt – weil sie etwa die ersten Besucher des Restaurants waren oder weil sie spezielle Fertigkeiten besitzen und ganz bestimmte Lücken im sozialen Netzwerk nutzen. In einer Kaskade entscheiden sich Menschen nicht selbstständig; die einzelnen Personen werden vielmehr stark durch ihre Umgebung beeinflusst, manchmal sogar von ihr prädestiniert.
    Die wohl katastrophalste Informationskaskade der Geschichte hat sich in jüngster Zeit, in den späten neunziger Jahren, ereignet, als die Seifenblase der Telekommunikationsindustrie platzte. In der Frühzeit des Internets wuchs der Nachrichtenverkehr um jährlich 1000 Prozent. Etwa von 1996 an ging diese Quote (was eigentlich zu erwarten war) drastisch zurück. Doch davon nahm niemand Notiz. Die Wachstumsgröße 1000 Prozent war zum fixen Bestandteil der konventionellen Weisheit geworden und hat Telecom-Unternehmen veranlasst, anfangs zehn, schließlich Hunderte von Dollarmilliarden in den Aufbau von Kapazitäten zu investieren, um den erwarteten Internet-Verkehr zu bewältigen. Nicht zu investieren galt damals als geradezu selbstmörderisch. Auch wenn einer Zweifel hegte, ob solche Verkehrsmengen wirklich je zustande kämen – alle anderen rundum behaupteten fest, dies sei zu erwarten. Die konventionelle Weisheit wurde erst dann ernsthaft infrage gestellt und für unverlässlich befunden, als die Blase platzte – als die meisten Telecom-Unternehmen Bankrott gingen oder kurz vor der Pleite standen.

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    Sollten wir uns also in unseren Zimmern einschließen und aufhören, das Tun der anderen zu beachten? Nicht wirklich (obwohl es stimmt, dass wir kollektiv bessere Entscheidungen treffen würden, wenn wir nicht mehr auf den Rat unserer Freunde hörten). In vielem wirkt Nachahmen sich positiv aus, jedenfalls in einer Gesellschaft wie der amerikanischen, wo die Dinge im Allgemeinen ohne viel Kontrolle von oben laufen – da ist es leicht und nützlich, sich, sozusagen als Daumenregel, am Verhalten der anderen zu orientieren. Statt vor jeder Handlung lange, komplizierte Erwägungen anzustellen, lassen wir uns vom Tun anderer leiten. Nehmen wir ein paar Beispiele aus dem Alltagsleben in der Großstadt. Wenn ich an einem bewölkten Tag unsicher bin, ob ich beim Verlassen meiner Wohnung besser einen Regenschirm mitnehme oder

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