Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
entlang derer heute die Route 27A in Jamaica, Queens verläuft – bis in die achtziger Jahre des vorletzten Jahrhunderts weiterhin benutzt wurden, waren zum Ende des amerikanischen Bürgerkrieges fast alle aufgegeben worden.
Das Bohlenstraßen-Fieber bietet ein anschauliches Beispiel für ein Phänomen, das von Ökonomen als »Informationskaskade« bezeichnet wird. Die erste Strecke in Salina war ein Erfolg, ebenso die in den unmittelbar darauf folgenden Jahren gebauten Straßen. Wer sich nach einer Lösung für das örtliche Straßenproblem umschaute, hatte folglich eine praktische Antwort vor Augen. Und mit der zunehmenden Errichtung von Bohlenstraßen erhöhte sich deren Legitimität, desto geringer wurde der Anreiz, nach einer anderen Problemlösung zu suchen. Zu dem Zeitpunkt, als die fundamentale Schwäche solcher Straßen – ihre zu kurze Lebensdauer – offenkundig wurde, waren überall im Land bereits Bohlenstraßen in Planung oder im Bau.
Wie konnte es dazu kommen? Die Wirtschaftswissenschaftler Sushil Bikhchandani, David Hirshleifer und Ivo Welch, die erstmals eine Informationskaskade beschrieben, schildern es folgendermaßen: Die Angehörigen einer hinreichend großen Gruppe haben die Wahl zwischen einem neu eröffneten indischen und einem neuen Thai-Restaurant. Das indische Restaurant ist (objektiv) besser als das thailändische Lokal, doch erhält jedes Gruppenmitglied irgendwann eine Teilinformation darüber, welches von beiden Restaurants das bessere ist, das heißt eine unvollständige Information. (Manchmal wird sie auch falsch sein, also das Thai-Restaurant als das bessere Etablissement ausgeben und eine Person in die falsche Richtung weisen.) Um die eigene Information zu erweitern, werden die Leute folglich beobachten, was andere machen. (Die Wirtschaftswissenschaftler setzen voraus, dass jeder weiß: Alle verfügen über ein bisschen gute Information.)
Problematisch wird’s, wenn die Entscheidungen dieser Leute nicht auf einmal, sondern in Folge entstehen – ergo: Etliche Leute suchen zunächst ein und dasselbe Restaurant auf, worauf alle übrigen folgen. Wenn nun aber die anfänglichen Lokalbesucher zufällig einer schlechten Information aufgesessen sind, sodass sie das Thai-Restaurant für phantastisch halten, werden sie dorthin gehen. Zu diesem Zeitpunkt nimmt im Kaskadenmodell jeder Nachfolgende an – selbst wenn ihn eine Information erreicht, das Essen sei im indischen Restaurant besser -, es bestehe eine Chance, dass das Thai-Restaurant vorzüglicher sei, weil es gut besucht ist. So trifft schließlich jeder die falsche Entscheidung, bloß weil die ersten zum Abendessen ausgehenden Personen zufälligerweise die falsche Information hörten.
In dem Fall entwickelt eine Kaskade sich nicht durch blindes Befolgen eines Trends, Konformgehen oder Gruppendruck. (»Den neuen Britney-Spears-Song mögen alle, da gefällt er mir sicher auch.«) Hier entsteht ein Anschlussverhalten, weil Leute meinen, das Vor-Gehen der anderen hätte Informationswert; sie glauben, aus deren Beispiel etwas Wichtiges zu lernen. Und im Fall der Bohlenstraßen lag der um sich greifende Erfolg ja nicht ausschließlich in der Beredsamkeit von George Geddes oder darin begründet, dass man im ganzen Land sagte: »Wir bauen eine neue Bohlenstraße, weil die Stadt am gegenüberliegenden Flussufer auch eine hat.« Das Bohlenstraßen-Fieber griff um sich, weil diese Art Verkehrsweg sich tatsächlich als die bestmögliche Lösung des Transportproblems erwies. Sie halbierte die Reisezeit zwischen den Städten. Sie war bei jeder Witterung befahrbar. Sie erweiterte die Absatzchancen für landwirtschaftliche Produkte über die Grenzen des bis dahin Vorstellbaren. Sie führte echt zu Verbesserungen. Die Bohlenstraßen wirkten mit zunehmender Zahl überzeugend dank der Tatsache, dass sie wahre und anscheinend bleibende Verbesserungen mit sich brachten. Jede neu erbaute Bohlenstraße war den Menschen ein weiteres Indiz dafür, dass eine Bohlenstraße verkehrsmäßig funktionierte. Und mit jeder neuen Bohlenstraße nahm die Wahrscheinlichkeit einer andersartigen Lösung des Transportund Verkehrsproblems ab.
Das Kernproblem einer Informationskaskade beruht auf folgendem Umstand: Nach einer gewissen Zeit erscheint es rational, sich nicht mehr nach den eigenen, persönlichen Informationen zu richten und stattdessen dem Beispiel anderer zu folgen. (Wenn alle die gleiche Chance einer richtigen Entscheidung haben und jeder die
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