Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
wie zu gehen haben. Jeder Einzelne entscheidet für sich, was er nach bester Einschätzung des Vorgehens aller übrigen tun muss. Und irgendwie gelingt das meist wunderbar. Da scheint so etwas wie ein kollektives Genie am Werk zu sein.
Hier zeigt sich freilich eine andere Art von Genie als bei der Punkteverteilung der National Football League oder bei Google. Bei der Aufgabe, die eine Fußgängermenge löst, geht es um etwas völlig anderes als bei der Frage: »Wer wird das Match zwischen ›Giants‹ und ›Rams‹ gewinnen – und wie hoch?« Die Aufgabe, welche die Fußgänger bewältigen, ist ein Beispiel für die so genannten Koordinationsprobleme . Im täglichen Leben sind Koordinationsprobleme allgegenwärtig. Um welche Uhrzeit sollten wir uns auf den Weg zur Arbeit machen? Wohin wollen wir abends zum Essen gehen? Wie treffen wir unsere Freunde? Wie verteilen wir die Sitzplätze in der U-Bahn? All das stellt Koordinationsprobleme dar; desgleichen viele zentrale Fragen, wie sie in jeder Art von Wirtschaftssystem auftreten: Wer wird wo Arbeit finden? Wie viele Warenmengen soll meine Fabrik herstellen? Wie können wir sicherstellen, dass die erwünschten Konsumgüter und Dienstleistungen zur richtigen Adresse gelangen? Und Koordinationsprobleme sind immer durch ein besonderes Charakteristikum definiert: Bei ihnen reicht es nicht, dass ein Einzelner die Lösung für sich sucht und seine Lösung für richtig hält – er muss berücksichtigen, was andere für richtig halten; im Kontext von Koordinationsaufgaben wird das individuelle Verhalten nämlich stets von dem Verhalten aller übrigen berührt und abhängen, wie umgekehrt.
Eine nahe liegende Methode zur Koordinierung menschlichen Verhaltens ist natürlich die Anwendung von Autorität beziehungsweise Zwang. Soldaten, die auf einer Parade in Reih und Glied marschieren, sind hervorragend koordiniert, ebenso die Handgriffe der Arbeiter am Fließband. Auf das Privatverhalten der Bürger einer liberalen Gesellschaft aber haben die Machtbefugnisse einer Behörde, selbst Gesetzestexte oder formelle Regeln, jedoch eine nur begrenzte Einwirkungsmöglichkeit. Koordinationsaufgaben erfordern deshalb oft Lösungen, die von unten, von der Basis her, kommen. Für sie alle stellt sich folglich eine grundsätzliche Frage: Wie ist es möglich, dass Menschen ihre Handlungsweisen freiwillig – also ohne dass ihnen jemand befiehlt, was sie zu tun hätten – in geordneter Form wirksam aufeinander abstimmen?
Die Antwort darauf ist nicht einfach. Das soll nun nicht heißen, dass es überhaupt keine Antwort gibt, sondern nur: Im Unterschied zu vielen der in diesem Buch bisher behandelten Probleme sind Koordinationsaufgaben einer eindeutigen, definitiven Lösung weniger leicht zuführbar. Wenn sich Lösungen finden lassen, so sind es oft eher mehr oder weniger gute denn optimale Lösungen; hier spielen häufig Institutionen, Normen und Historisches mit – Faktoren, die das Verhalten einer Menge ebenso prägen, wie umgekehrt diese Faktoren von ihr geprägt werden. Bei Koordinationsproblemen ist das Bemühen um eine individuell unabhängige Entscheidungsfindung – das heißt um eine Entscheidung, welche die Meinungen anderer außer Acht lässt – schlicht sinnlos. Was ich persönlich erreichen will, ist davon abhängig, was Sie zu tun beabsichtigen und umgekehrt. Es gibt folglich keine Garantie, dass Gruppen hier mit gescheiten Lösungen aufwarten. Und doch gelingt es ihnen oft.
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Stellen Sie sich nun zunächst einmal bitte folgende Situation vor: Da gibt es in Ihrem Wohnort eine Kneipe, die Sie gern besuchen. Dieses Lokal ist allerdings auch bei vielen Ihrer Mitbürger beliebt. Daraus ergibt sich ein Problem: Wenn die Kneipe voll ist, fühlt sich dort keiner richtig wohl. Nun möchten Sie sich dort aber am Freitagabend ein Bierchen genehmigen – freilich nur, wenn Ihr Stammlokal nicht überfüllt ist. Was machen Sie in dieser Situation?
Zur Beantwortung der Frage sollten Sie – und sei es bloß hypothetisch – von der Voraussetzung ausgehen, dass die anderen genauso empfinden wie Sie und einen Abend am Tresen bei maßvoller Frequentierung als angenehm, bei Überfüllung dagegen als unangenehm erleben. Wenn aufgrund solcher Einstellung alle miteinander vermuten, die Kneipe werde am Freitagabend proppenvoll sein, werden sich nur wenige Gäste auf den Weg dorthin machen; sie wird also relativ leer sein und den wenigen, die gekommen sind, ausnehmend gut gefallen. Wenn
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