Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
solche Unsicherheit liegt jedoch in der Eigenart aller Koordinationsprobleme begründet. Sie eindeutig zu lösen ist eben enorm schwierig; es würde wahrlich einen Triumph bedeuten, hier eine unstrittige Lösung präsentieren zu können. Wenn das, was Menschen bezwecken, durch die Absichten aller anderen bedingt ist, wird die Wirkkraft jedes individuellen Beschlusses eben auch durch die Entscheidungen aller anderen bedingt, und das bedeutet wiederum, dass, weil ja ein fixer, extern vorgegebener Bezugspunkt fehlt, eine endlose Selbstbezugsspirale entsteht. Auf dem von Francis Galton besuchten ländlichen Viehmarkt ging es bei der Schätzung eines Ochsengewichts um die Beurteilung einer real existenten Größe. Bei der Frequentierung der Bar El Farol dagegen hatten Brian Arthurs (Computer-)Agenten eine aufgrund eigenen Verhaltens mitbestimmte, variable Wirklichkeit einzuschätzen. Es wirkt in Anbetracht dieses Umstands fast wie ein Wunder, dass sie die durchschnittliche Besuchsfrequenz korrekt zu ermitteln vermochten.
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Der Sozialwissenschaftler Thomas C. Schelling führte 1958 Experimente mit einer Gruppe von Jurastudenten aus New Haven, US-Bundesstaat Connecticut, durch. Er forderte sie auf, sich vorzustellen, sie hätten ohne zu wissen, wo, in New York eine Person zu treffen und auch keine Möglichkeit, sich darüber mit ihr vorher zu verständigen. Wie würden sie diese Aufgabe angehen?
Solch eine Aufgabenstellung ist augenscheinlich schwierig zu bewältigen. New York ist immerhjn eine Riesenstadt mit zahllosen möglichen Treffpunkten. Dennoch entschied sich die Mehrzahl der Studenten für ein und denselben Begegnungsort: den Informationsstand in der Grand Central Station. Daraufhin erhöhte Schelling den Schwierigkeitsgrad der Aufgabe noch ein wenig. »Sie wissen den Tag«, so erklärte er seinen Studenten, »nicht aber die genaue Uhrzeit, wann Sie mit der anderen Person zusammentreffen sollen. Wann werden Sie persönlich also an diesem Informationsstand der Grand Central Station erscheinen?« Wenn die generelle Beantwortung der ersten Frage bereits erstaunlich ausgefallen war, so schienen die Antworten auf die zweite Frage noch beeindruckender: Sie lauteten diesmal nahezu einhellig: um Punkt zwölf Uhr mittags. Anders gesagt: Wenn man zwei Jurastudenten am entgegengesetzten Ende einer der größten Städte der Welt aussetzen und auffordern würde, einander zu finden, würden sie sich wahrscheinlich zu einem gemeinsamen Mittagessen treffen.
Schelling vermochte dieses Ergebnis prinzipiell zu bestätigen mittels einer Reihe von Experimenten, in denen der Erfolg eines Individuums davon abhing, wie gut es seine Reaktion mit anderen koordinieren konnte. So formte er beispielsweise Zweiergruppen und forderte beide Mitglieder auf, entweder »Kopf« oder »Adler« zu nennen. Hier ging es ihm um die Ermittlung der Quote partnerschaftlicher Übereinstimmung. Von insgesamt 42 Personen entschieden sich 36 für »Kopf«. Er stellte ein in 16 Quadrate unterteiltes Schild auf und bat die Studenten, ein Quadrat zu bestimmen. (Gruppen, in denen alle Mitglieder das gleiche Quadrat wählten, sollten mit einem Preis belohnt werden.) Insgesamt tippten 64 Prozent der Personen auf das obere linke Quadrat. Es kam also selbst bei Experimenten mit anscheinend unendlich vielen Auswahlmöglichkeiten zu einer recht guten Koordinierung. Als Schelling seine Studenten beispielsweise auch aufforderte: »Nennen Sie eine positive Zahl«, gaben 40 Prozent von ihnen die Eins an.
Wie war so etwas möglich? Schelling erklärte es damit, dass es in vielen Situationen hervorstechende Marksteine oder Brennpunkte gibt, auf welche menschliche Erwartungen konvergieren. (In der soziologischen Fachsprache sind sie heute unter dem Begriff »Schelling Points« bekannt.) Diese Schelling Points sind in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Erstens: Sie sind ein Indiz dafür, dass Menschen nicht nur ohne zentral vorgegebene Anweisungen einen Weg zu kollektiv nützlichen Ergebnissen zu finden vermögen, sondern auch, ohne miteinander zu reden. Schelling drückte es so aus: »Menschen sind oft in der Lage, ihre Absichten und Erwartungen mit anderen abzustimmen, wenn jeder weiß, dass der andere sich um das Gleiche bemüht.« Und das ist insofern wichtig, als Diskussionen und Absprachen nicht immer möglich sind und in größeren Gruppen schwierig oder ineffizient sein können. (In seinem Buch Smart Mobs weist Howard Rheingold allerdings nach, dass neue mobile
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