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Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Titel: Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Surowiecki
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Es sieht zumindest so aus, als ob die Stare in einer konzertierten Aktion handelten, als ob sie eine im Vorhinein abgestimmte Strategie befolgten, die jedem Vogel eine höhere Überlebenschance bietet. Der Eindruck ist aber falsch. Jeder Star handelt für sich allein, wobei er freilich vier allgemeine Regeln einhält: erstens dem Zentrum so nah wie eben möglich zu bleiben; zweitens zum Nachbarn zwei bis drei Körperlängen Distanz zu halten; drittens eine Kollision mit dem am nächsten fliegenden Artgenossen zu vermeiden; und viertens auszuweichen, wenn etwa ein Falke im Sturzflug auf ihn herabstößt. Kein Star weiß, wie die anderen Stare sich verhalten werden. Es kann kein Star einem anderen irgendwelche Befehle geben. Es gibt nur die vier Grundregeln, doch sie ermöglichen es dem Schwarm, in der richtigen Richtung weiterzufliegen, Greifvögeln auszuweichen und sich nach einer Auflösung der Formation sogleich von Neuem zu gruppieren.
    Man darf wohl ohne Übertreibung behaupten: Wer sich für Gruppenverhalten interessiert, ist auch von Zugvögeln fasziniert. Unter den Hunderten von Büchern, die während des letzten Jahrzehnts über selbstorganisierende Gruppen erschienen sind, gibt es kaum eines, das eine Erörterung des Verhaltens von Zugvögeln (oder Fischschwärmen) ausspart. Der Grund liegt auf der Hand: Solche Schwärme liefern beeindruckende Beispiele für eine Sozialform, die sich in ihren Zielen von der Basis her ausrichtet und ihre Schwierigkeiten von unten her meistert – ohne »Leithammel«, ohne Befolgung komplizierter Algorhythmen und Regelwerke. Wer einen Vogelschwarm am Himmel beobachtet, gewinnt eine Vorstellung von »spontaner Ordnung«, um einen Begriff des Ökonomen Friedrich Hayek zu verwenden. Denn es ist ja nicht so, dass Stare sich vorher auf konkrete Maßnahmen verständigt hätten. Sie folgen einfach nur ihren Grundregeln und verhalten sich trotzdem völlig spontan. Die einzelne individuelle Flugaktion eines jeden Stars ist ebenso wenig wie die Formation des Schwarms auf eine Planvorgabe rückführbar. Die Stare ziehen einfach nur weiter
    Etwas Ähnliches, wenngleich nicht annähernd so Schönes können Sie beim nächsten Besuch Ihres örtlichen Supermarkts auf der Suche nach einem Karton Orangensaft erleben. Der Karton ist bereits da, obwohl Sie dem Filialleiter Ihren Besuch nicht vorangekündigt hatten. Und mit aller Wahrscheinlichkeit wird dort während der nächsten Tagen für alle Kunden genügend Orangensaft im Kühlfach lagern, auch wenn keiner von ihnen vorher ein Kaufinteresse bekundet. Der Saft, den Sie kaufen, wird Tage zuvor abgepackt worden sein, nachdem er aus Orangen gepresst wurde, die Wochen vorher von Leuten gepflückt wurden, die nicht einmal wissen, dass Sie überhaupt existieren. Die Akteure in dieser Kette – Kunde, Einzelhändler, Großhändler, Abpackunternehmen, Pflanzer – handeln vielleicht nicht auf der Basis von Grundverhaltensregeln wie die Stare, nutzen aber ebenso wie die Vögel ihr individuelles örtliches Wissen; und sie treffen ihre Entscheidungen nicht unter dem Gesichtspunkt, was für alle gut ist, sondern nach dem, was ihnen jeweils selber nützt. Und doch können Menschen – von denen die meisten keineswegs sonderlich rational denken oder weitblickend handeln – auf diese Weise ihre wirtschaftlichen Aktivitäten koordinieren, ohne dass sie von jemandem gelenkt werden.
    So hoffen wir zumindest. Was ist der freie Markt denn schon seinem Wesen nach? Ein Mechanismus zur Lösung eines Koordinationsproblems, des wahrscheinlich allerwichtigsten Koordinationsproblems überhaupt: Wie schafft man Waren zum richtigen Preis an die richtigen Stellen? Wenn der Markt gut funktioniert, wandern die Waren und Dienstleistungen von den Leuten, die sie am billigsten herzustellen vermögen, zu den Menschen, die sie am dringendsten benötigen. Rätselhaft scheint das nur im Lichte der Annahme, dass all dieses geschieht, ohne dass irgendwer über ein Gesamtbild der Aktivitäten des Marktes verfügt und ohne dass jemand im Voraus weiß, wie eine treffliche Lösung des Problems aussieht. (Selbst die Existenz von Großunternehmen auf dem Markt ändert nichts an der Tatsache, dass jede einzelne Person nur eine Teilkenntnis des Marktes hat.) Wie kann das aber funktionieren? Können denn Menschen, die ja immer nur über partielles Wissen und beschränkte Möglichkeiten des Vorausberechnens verfügen, wirklich Waren zum richtigen Preis an die richtigen Lokalitäten schaffen,

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