Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
verstrichen. Sein Experiment ist in immer komplexeren Variationen hunderte, wenn nicht gar tausende Male wiederholt worden. Die Kernerkenntnis seines ersten originalen Experiments – dass unvollkommene Menschen unter den richtigen Umständen fast ideale Ergebnisse zu erzielen vermögen – ist aber bis heute unbestritten.
Ist das nun etwa so zu verstehen, dass die Märkte stets auf ideale Weise funktionieren? Mitnichten. Denn erstens: Wiewohl die Studenten von Vernon Smith nicht als rundum vollkommene Entscheidungsträger bezeichnet werden können, ist der Raum eines Universitätsseminars doch abseits der Unzulänglichkeiten, die für real existierende Märkte charakteristisch sind. (Es sind eben die Unzulänglichkeiten, die übrigens das Geschäftsleben weitaus interessanter machen, als Wirtschaftslehrbücher es vermitteln). Zweitens: Smith’ Experimente weisen nach, dass zwischen menschlichen Verhaltensweisen in Konsummärkten (wie etwa für Fernsehgeräte) und in Anlegermärkten (wie beispielsweise die Aktienbörse) ein erheblicher Unterschied besteht. Wenn Studenten »Fernsehgeräte« kaufen und verkaufen, stoßen sie sehr bald auf eine korrekte Problemlösung. Beim Kaufen und Verkaufen von Wertpapieren dagegen sind die Ergebnisse sehr viel volatiler und unberechenbarer. Drittens: Wie die Gleichung von Arrow und Debreu vermögen auch die Experimente von Smith wenig darüber auszusagen, ob (oder ob nicht) Märkte gesellschaftlich – im Unterschied zum rein Ökonomischen – optimale Resultate zeitigen. Wenn Wohlstand ungleich verteilt ist, bevor Menschen in einem Markt zu handeln beginnen, wird er hinterher kein bisschen gleichmäßiger verteilt sein. In einem gut funktionierenden Markt wird jeder einzelne Teilnehmer schlussendlich für sich besser dastehen als zuvor – günstiger im Vergleich mit der eigenen Ausgangssituation, aber nicht unbedingt besser im Vergleich mit den anderen Marktteilnehmern. Eine Verbesserung der eigenen Lage ist jedoch immerhin schon etwas.
Wie dem auch sei – hinsichtlich der Forschungsergebnisse von Smith und seinen Kollegen ist eines ausschlaggebend: Sie haben belegt, dass Menschen, wie naiv und ungebildet sie als »Handlungsträger« auch sein mögen, sich koordinieren können, um komplizierte, wechselseitig wohltätige Ziele zu erreichen, selbst wenn sie anfangs nicht wirklich Klarheit darüber haben, worin diese Ziele bestehen und wessen es bedarf, um diese Ziele zu erreichen. Als Individuen wissen sie nicht, wohin sie gehen. Als Bestandteil und als Teilnehmer eines Marktes sind sie jedoch plötzlich imstande, das Ziel zu erreichen – und dies sogar ziemlich rasch.
SECHSTES KAPITEL
Es gibt die Gesellschaft doch:
Steuern, Trinkgelder, Fernsehen und Vertrauen
1
Es war ein Verbrechen, das im Sommer 2002 an der gesamten italienischen Nation verübt wurde: So empfanden es zumindest viele Millionen italienischer Fußballfans, nachdem ihre Nationalmannschaft vom Außenseiter Südkorea aus dem Turnier um die Fußballweltmeisterschaft katapultiert worden war. Die hochfavorisierten Italiener waren sehr früh mit einem Tor in Führung gegangen und hatten dieses Ergebnis fast über die ganze Spieldauer halten können, bis sie kurz vor Schluss den Ausgleichstreffer hinnehmen mussten und dann in der Spielverlängerung unterlagen. Die Leistung der italienischen Elitekicker hätte bestenfalls als mittelmäßig bezeichnet werden können, obwohl sie durch zwei oder drei sehr fragwürdige Schiedsrichterentscheidungen benachteiligt wurden – darunter die Nichtanerkennung eines Tores -, die das Spiel letztendlich zugunsten der Südkoreaner entschied.
Die italienischen Fans lasteten die Niederlage selbstverständlich dem Schiedsrichter Byron Moreno aus Ecuador an. Seltsamerweise warfen sie ihm jedoch keineswegs (was berechtigt gewesen wäre) Inkompetenz, sondern kriminelles Verhalten vor. Nach Meinung der »Tifosi« war ihr Nationalteam das Opfer von etwas viel Schlimmerem als einer bloß miserablen Schiedsrichterleistung geworden: Sie sahen sich als Leidtragende einer globalen Verschwörung, die möglicherweise sogar von der FIFA initiiert worden war, einzig und allein mit dem Ziel, die Italiener um ihren rechtmäßigen Triumph zu bringen. Moreno hätte infolgedessen lediglich auftragsgemäß gehandelt und dementsprechend Instruktionen nur perfekt umgesetzt.
So prangerte beispielsweise der Mailänder Corriere della Sera ein System an, in dem »Schiedsrichter... als Exekutoren
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