Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Gänsemarschreihe mag den Nachteil haben, dass sie – weil alle in dieser einen Schlange anstehen – optisch abschreckender wirkt als die Phalanx, doch wird in Letzterer durchschnittlich jeder rascher abgefertigt, als wenn er in einer einzigen langen Schlange anstünde. Wenn es eine besonders kluge Art und Weise des Schlangestehens gibt, dann ist es die Phalanx. (Eine vernünftige Abwandlung der Konvention des Schlangestehens wäre dahingehend denkbar, dass Leute ihren Platz in der Schlange »verkaufen«. Auf die Weise würden Platzhalter, die keine Eile haben, sich ihre verfügbare Zeit entlohnen lassen – ein für sie gutes Geschäft – und viel beschäftigte Leute Geld gegen Zeit tauschen können, was sich wiederum für sie lohnen würde. So etwas widerspräche allerdings dem egalitären Ethos, welches der Konvention des Anstehens innewohnt.)
Ich habe zu Beginn dieses Kapitels betont, dass in liberalen Gesellschaften Behörden nur eine begrenzte Einflussmöglichkeit auf den Verkehr von Bürgern untereinander haben. Stattdessen spielen hier gewisse Konventionen eine wesentliche Rolle – Konventionen, die, wie Milgram nachgewiesen hat, von Bürgern freiwillig eingehalten werden, indem sie ihr Verhalten in einer größeren Menge mit einem Minimum an Aufwand und geistiger Anstrengung aufeinander abstimmen. Es würde seltsam anmuten, bestreiten zu wollen, dass sich auch in dieser Leistung eine Weisheit der Menge manifestiert.
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Nun mögen Konventionen ja im gesellschaftlichen Alltagsleben von einiger Bedeutung sein. Im Wirtschaftsleben und in der Führung von Unternehmen aber dürften sie sämtlichen ökonomischen Theorien zufolge eigentlich keine Rolle spielen. Unternehmen sollten schließlich auf Gewinnmaximierung ausgerichtet, ihre Geschäftspraktiken und strategischen Entscheidungen also rational bestimmt und nicht historisch oder durch ungeschriebene kulturelle Faktoren bedingt sein. Seltsamerweise haben Konventionen jedoch einen profunden Einfluss auf das Wirtschaftsleben und auf die Führung von Unternehmen. So ist es beispielsweise auf Erfahrungen, Praktiken und Denkweisen früherer Wirtschaftsepochen, also auf Konventionen zurückzuführen, dass Unternehmen in Rezessionen nur selten zum Mittel der Lohnkürzung greifen. (Lohnkürzungen laufen den Erwartungen der Arbeiterschaft zuwider und beeinträchtigen somit die Arbeitsmoral.) Aus diesem Grund nimmt man heute lieber Entlassungen vor. Es ist auch nur aufgrund von Konventionen zu verstehen, dass die überwiegende Mehrheit der Ackerlandpachtverträge die wirtschaftlichen Erlöse eines Bauernhofes fünfzig zu fünfzig aufteilt, obwohl es logisch wäre, sie gemäß der jeweiligen qualitativen Beschaffenheit von Hof und Boden zu splitten. Welch starken Einfluss Konventionen auf Strategie und Spielbewertung in manchen Profisportarten ausüben, haben wir bereits gesehen. Und wettbewerbsmäßig wäre es gewiss günstiger, wenn jeder Automobilhersteller seine neuen Modelle in jeweils anderen Monaten als die Konkurrenz auf den Markt brächte; trotzdem präsentieren alle großen Autofabrikanten ihre neuen Modelle Jahr um Jahr im September – weil es eben Konvention ist.
Ganz besonders wirkmächtig sind Konventionen aber gerade in dem Bereich des wirtschaftlichen Lebens, in dem man es eigentlich am allerwenigsten vermuten würde: in der Preisbildung. Preise sind schließlich die Hauptinformationsträger zwischen Käufern und Verkäufern und umgekehrt; folglich müsste man annehmen, dass Unternehmen ihre Preise möglichst rational festsetzen – dass sie die Preise also in hohem Maße an der Kundennachfrage ausrichten. Im Übrigen ist eine richtige Preisfindung (zumindest für Unternehmen, die nicht in reinen Wettbewerbsmärkten operieren) offenkundig der eigentliche Schlüssel zur Gewinnmaximierung. Manche Firmen haben die intelligente Preisgestaltung in der Tat zum Kernfaktor ihrer Geschäftspolitik gemacht – so etwa die Zivilfluggesellschaft American Airlines, die ihre Preise angeblich pro Tag 500 000 Mal ändert, oder die Supermarktkette Wal-Mart, für die stetige Preissenkungen zum Dogma geworden sind. Doch zahlreiche Unternehmen gehen in ihrer Preisfixierung völlig sorglos und in einer den Kunden gegenüber überheblichen Einstellung vor. Sie setzen die Preise einfach in freier Schätzung oder nach gewissen Daumenregeln fest. In seiner aufschlussreichen Untersuchung zur Geschichte der Preisentwicklung in 35 wichtigen Branchen der USA von 1958 bis 1992
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