Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Überraschung. Der von Vernon Smith beim Journal of Political Economy , einer ausgesprochen markwirtschaftsfreundlichen Zeitschrift, die von Ökonomen an der Chicago University herausgegeben wurde, eingereichte Forschungsbericht wurde denn auch zunächst abgelehnt. Die Herausgeber weigerten sich, den Beitrag zu akzeptieren, weil er nach ihrem Verständnis nichts weiter als einen Beweis dafür erbrachte, dass die Sonne im Osten aufging. (Er wurde schließlich doch publiziert, obwohl er von vier Gutachtern negativ beurteilt worden war.) Hatten denn Wirtschaftswissenschaftler seit Adam Smith etwa nicht längst begründet, dass die Märkte eine hervorragende Güterverteilung garantierten? Und hatten in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Ökonomen Kenneth J. Arrow und Gerard Debreu nicht nachgewiesen, dass die Funktionen des freien Marktes unter gewissen Umständen gar eine optimale Warenverteilung herbeiführten? Inwiefern sollten die Experimente von Smith also überhaupt noch von Bedeutung sein?
Sie waren immens bedeutsam, weil sie demonstrierten, dass Märkte selbst dann ausgezeichnet funktionieren, wenn Menschen aus Fleisch und Blut Handel trieben. Der von Arrow und Debreu dargebotene Beweis für die Effizienz von Märkten – die so genannte »Gleichgewichtshypothese« – war in sich schlüssig und in seiner Vollkommenheit schlicht und ergreifend schön. Er beschrieb eine Wirtschaft, in der sich alle Teile zu einem Ganzen fügen und in der Irrtümer unmöglich waren. Ihr Beweis hatte bloß den Haken, dass ein real existierender Markt die vorausgesetzten Bedingungen nie und nimmer zu erfüllen vermochte. Denn in der idealen, imaginären Welt von Arrow und Debreu verfügt jeder Käufer und Verkäufer über umfassendes Wissen, das heißt, da kennt jeder den Preis, zu dem sämtliche anderen Käufer und Verkäufer zu kaufen oder zu verkaufen bereit sind; da weiß außerdem ein jeder auch, dass alle anderen wissen, dass er es weiß. Da sind alle Käufer und Verkäufer durch und durch rationale Wesen, das heißt, sie haben ein klares Bewusstsein, wie sie ihre Eigeninteressen optimal realisieren können. Und dort hat jeder Käufer und jeder Verkäufer Zugang zum kompletten Bestand aller Verträge, die jede nur denkbare Eventualität abdecken. Sie sind also gegen jegliche Eventualitäten abgesichert.
Nur – so verhält es sich nun einmal auf keinem real existierenden Markt. Da verfügt niemand über ein vollständiges Wissen. Da hat jedermann lediglich persönliche, vertrauliche, begrenzte Informationen. Es mögen wertvolle Informationen und richtige Informationen sein (sie können freilich auch völlig nutzlos und falsch sein). Es handelt sich aber auf jeden Fall immer nur um Teilinformationen. Zudem sind Menschen aus Fleisch und Blut keineswegs rein rationale Wesen. Selbst wenn sie, zumindest überwiegend, auf eine Optimierung eigener Vorteile bedacht sein sollten, sind sie sich mitnichten immer sicher, wie so etwas zu bewerkstelligen wäre, und nur zu oft bereit, sich mit weniger als perfekten Resultaten zufriedenzugeben. Und Verträge sind erbärmlich lückenhaft. Arrow und Debreu haben, daran besteht kein Zweifel, ein Instrument von unschätzbarem Wert geliefert – zum Teil deswegen, weil sie einen idealen Markt entwarfen, der einen Maßstab zur Bewertung der realen Märkte liefert. Eines aber vermochten sie jedenfalls nicht nachzuweisen: dass real existierende Märkte effizient und weise sein können.
Genau dafür hat aber Vernon Smith mit seinen Experimenten den bis dahin ausstehenden Beweis erbracht. Ihm gelang es zu belegen, dass unvollkommene Märkte, Märkte, in denen unvollkommene Menschen agieren, nahezu ideale Resultate zu erbringen vermögen. Die Teilnehmer an den Smith’schen Experimenten waren sich nicht immer im Klaren darüber, worum es da eigentlich ging. Viele von ihnen empfanden die Erfahrung solchen Handels als überaus chaotisch und verwirrend. Sie beschrieben ihre eigenen Entscheidungen auch keineswegs als Resultat eines umsichtigen, sorgfältigen Bemühens um genau die richtige Entscheidung, sondern eher als die relativ besten Entscheidungen – als die besten Entscheidungen, zu denen sie zum jeweiligen Zeitpunkt imstande waren. Dennoch fanden sie im Vertrauen auf ihre beschränkten, vertraulichen, rein persönlichen Kenntnisse zum richtigen Resultat.
Seit dem ersten Experiment Vernon Smith’ und der Publikation seines Forschungsberichts sind fast fünf Jahrzehnte
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