Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
kurzfristigen Profiten – eine Umgewichtung, die man für den modernen Kapitalismus wohl als wesentlich bezeichnen darf. Laut Tilly begann die Wirtschaft, »einzelne Transaktionen als Gliedteile einer umfassenderen Kette von gewinnbringenden Unternehmungen« zu verstehen statt wie bis dahin als »singuläre Chancen, die bis zum Letzten ausgebeutet werden müssten«. Wenn dauerhafter Wohlstand von Gegengeschäften, von Mund-zu-Mund-Propaganda und zukunftsträchtigen Beziehungen mit Lieferanten und Geschäftspartnern abhängt, wird faires Verhalten wichtiger. Vertrauen wurde – als Bindemittel des Handels – mehr als bloß wünschenswert. Es wurde schlicht zu einer Notwendigkeit.
Das Entscheidende dieses neuartigen Konzepts lag jedoch darin, dass Vertrauen sozusagen unpersönlich wurde. Zuvor war Vertrauen eine Frucht rein persönlicher oder binnensozialer Beziehungen – ich vertraue diesem Menschen, weil ich ihn kenne beziehungsweise weil er zum selben Clan oder zur selben Sekte wie ich gehört. Der moderne Kapitalismus ließ die Vorstellung, Leuten zu vertrauen, zu denen »keinerlei vorausgehende persönliche Beziehungen« bestanden, vernünftiger erscheinen, und sei es nur durch den Nachweis, dass Fremde einen nicht von vornherein betrogen. Es trug dazu bei, den Vertrauensfaktor in die Grundstruktur des alltäglichen Geschäftslebens einzuweben. Kaufen und Verkaufen bedurften nicht länger eines persönlichen Konnexes. Dank der positiven Ergebnisse des in wechselseitigem Interesse betriebenen Austauschs wurden sie sogar noch gefördert.
Dass heute alles so unpersönlich ist, wird gemeinhin als eine unselige Folgeerscheinung des Kapitalismus hingestellt. Anstelle der persönlichen Beziehungen, die auf Blutsbanden oder Zuneigung beruhen, schafft der Kapitalismus Beziehungen, die einzig und allein, um mit Karl Marx zu sprechen, durch Geld geknüpft werden. Doch in diesem Zusammenhang erweist sich das Unpersönliche geradezu als ein Vorzug. Es ist ja ein fundamentales Problem des Vertrauens, dass es gewöhnlich nur im Kontext »enger Beziehungen« gedeiht – im Rahmen von Familien-, Clan- oder Nachbarschaftsverhältnissen. Derartige Beziehungen lassen sich nicht mit zahlreichen Menschen gleichzeitig unterhalten; zudem sind sie mit der Weite und Vielfältigkeit der Kontakte inkompatibel, die eine gesunde moderne Wirtschaft (beziehungsweise Gesellschaft) erfordert. Enge Beziehungen können wegen ihrer Begünstigung rein personenbezogenen Handelns wirtschaftliches Wachstum sogar hemmen: Indem sie Homogenität fördern, behindern sie nämlich den Austausch des freien Marktes. Darum war der Bruch mit der Tradition, die Vertrauen als familiäres oder ethnisches Phänomen verstand, von essentieller Bedeutung. »Die Art von Vertrauen, die der Wirtschaftsleistung einer Nation zugute kommen müsste«, schreibt der Ökonom Stephen Knack, »ist das Vertrauen zwischen einander Fremden oder, genauer gesagt, zwischen willkürlich ausgewählten Einwohnern eines Landes. Es ist insbesondere für große und mobile Gesellschaften essentiell, in denen die Auswirkungen des Einander-persönlich-Kennens wie von persönlichem Leumund und Ansehen begrenzt sind, dass es in hohem Maße zu potenziell wechselseitig nützlichen Transaktionen unter Partnern ohne vorausgehende persönliche Bindungen kommt.«
Dieser Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Vertrauen ist, wie so vieles andere auch, jedoch gewissermaßen unsichtbar, weil er mit dem Hintergrund des Alltagslebens verschmolzen ist. Zum Kauf eines CD-Geräts kann ich überall in Amerika irgendeinen Laden betreten und relativ gewiss sein, dass es, ganz gleich, was für ein Gerät welcher Marke auch immer ich kaufe (produziert wurde es wahrscheinlich in einem 15 000 Kilometer entfernten Land), mit ziemlicher Sicherheit recht gut funktioniert – und das, obwohl ich möglicherweise nie wieder Kunde dieses Ladens sein werde. Wir halten die Verlässlichkeit eines Ladengeschäfts wie unser Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Geräts heutzutage für selbstverständlich. Beide stellen jedoch erst große Errungenschaften der Moderne dar.
Diese Form des Vertrauens könnte nicht existieren ohne den institutionellen und rechtlichen Rahmen, der jede moderne kapitalistische Gesellschaft abstützt. Dass Konsumenten ein Unternehmen wegen Betrugs verklagen, kommt im Grunde nur selten vor, nicht zuletzt deswegen, weil den Unternehmen bewusst ist, dass diese Möglichkeit dem Konsumenten offen steht.
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