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Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Titel: Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Surowiecki
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soll nun nicht gesagt sein, dass wissenschaftliche Wahrheit von der Beurteilung durch den Betrachter abhinge. Der Coronavirus hat SARS verursacht, bevor die WHO publik machte, dass er der Erreger dieser Krankheit ist. Nur: Für die Wissenschaft wurde er dazu erst, als weitere Forscher die Resultate der Labors geprüft hatten und akzeptierten, dass sie wirklich bewiesen, was die Labors als bewiesen ausgegeben hatten. Unter dieser Voraussetzung sind inzwischen Universitäts- und Pharmalabors in aller Welt damit beschäftigt, diagnostische Verfahren und Impfstoffe zu entwickeln, nur weil die ganze Wissenschaftsgemeinschaft in diesem Punkt Übereinstimmung erzielte. Robert K. Merton hat das Phänomen mit folgenden Worten umschrieben: »So etwas wie eine wissenschaftliche Wahrheit, an die nur eine Person glaubt und die von der übrigen Wissenschaftsgemeinschaft bezweifelt wird, gibt es nicht. Ein Gedanke wird erst dann zur Wahrheit, wenn eine überwiegende Mehrheit von Wissenschaftlern sie zweifelsfrei akzeptiert. Eben das ist letztlich gemeint mit dem Ausdruck vom ›Beitrag zur Wissenschaft‹: Es handelt sich um ein Angebot, das, wie immer provisorisch, in den generellen Wissensfundus aufgenommen worden ist.«
    Das klingt in unseren Ohren so selbstverständlich, dass leicht übersehen werden kann, was für ein immenses Vertrauen in das Urteilsvermögen der gesamten Wissenschaftsgemeinschaft es voraussetzt. Statt sich darauf zu verlassen, dass eine kleine Elite von Wissenschaftlern die Gültigkeit neuer Ideen verkündet, schleudern Wissenschaftler ihre Ideen einfach in die Welt hinaus im Vertrauen darauf, dass diejenigen Ideen überleben, die zu überleben verdienen. Dieser Prozess ist grundverschieden von der Funktionsweise von Demokratien oder Märkten. Hier werden ja keine förmlichen Abstimmungen durchgeführt, hier tragen Ideen auch keinen ausgeschilderten Preis. Und doch stellt dieser Prozess einer Aufnahme neuer Ideen in den allgemeinen Wissensfundus im Wesentlichen so etwas wie einen (stillschweigenden) Glauben an die kollektive Weisheit der Wissenschaftler dar.
    Nun ist es natürlich so, dass es theoretisch gesehen eigentlich gar keines Vertrauens in das Urteil anderer bedürfte; ein erfolgreiches Experiment muss ja wissenschaftlich wiederholbar sein. Falls ein Experiment funktioniert, wird es immer wieder funktionieren, ganz gleich, ob die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler es anerkennt oder nicht. Die Sache ist jedoch komplizierter. Denn die meisten Wissenschaftler werden die Experimente von anderen nie nachvollziehen. Sie werden darauf vertrauen, dass die Messwerte stimmen und die Experimente so methodisch einwandfrei durchgeführt worden sind, wie es der Experimentator angegeben hat. Eine erfolgreiche Hypothese ist eine Hypothese, die von den meisten Wissenschaftlern als glaubwürdig anerkannt wird – und nicht etwa eine Hypothese, welche die meisten Wissenschaftler, jeder für sich, experimentell überprüft und als wahr bestätigt haben. Und wurde eine Hypothese erst einmal akzeptiert, so genügt es, um sie zu erschüttern, auch nicht, wenn die Werte, auf denen sie basiert, in einem Wiederholungsexperiment nicht bestätigt werden können. Der ungarische Naturwissenschaftler und Philosoph Michael Polany hat es so erklärt: »Falls Sie ein wohlbekanntes Experiment vergeblich zu wiederholen versuchen würden, so werden Sie zunächst einmal nicht das Experiment in Zweifel ziehen, sondern, und das mit Recht, an Ihrer eigenen Geschicklichkeit zweifeln.« Das ist für die Wissenschaft auch gut so, denn wenn Forscher permanent einer des anderen Experimente überprüften, würden sie ihre ganze Zeit auf ausgetrampelten Pfaden verbringen, statt Neuland zu betreten. Im Übrigen müssten sie, um die Ergebnisse eines anderen Forschers zu testen, eine ganze Menge anderer Dinge als korrekt voraussetzen, die sie mit Sicherheit selbst nicht überprüft hätten. In diesem Sinne hat der Wissenschaftshistoriker Stephen Shapin ein Experiment kommentiert, bei dem er das DNA eines Tieres extrahierte: »Ich habe bei der Extraktion des DNA [selbstverständlich] vorausgesetzt, dass die Bestimmung des angelieferten Tiergewebes, die Geschwindigkeit der Trennschleuder, die thermometrischen Ablesungen, die qualitative und quantitative Zusammensetzung etlicher Lösungen korrekt waren und dass die Gesetze der Arithmetik stimmten.«
    Experimente können selbstverständlich wiederholt werden, und dies geschieht auch.

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