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Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Titel: Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Surowiecki
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Wissenschaftlicher Betrug wird aufgedeckt. Es geht uns in diesem Zusammenhang nicht darum zu behaupten, dass Wahrheit immer relativ ist – nein. Aus der Tatsache, dass die Kenntnisse von Wissenschaftlern auf den Mitteilungen anderer basieren, ergeben sich vielmehr zwei wichtige Konsequenzen. Erstens: Gute Wissenschaft erfordert einen so hohen Grad des Vertrauens zwischen Wissenschaftlern, dass sie selbst dann, wenn sie in Konkurrenz zueinander stehen, trotzdem stets in dem Sinne kooperieren, dass sie bei ihren Messungen die Regeln des Fairplay wahren. Zweitens, und dies ist noch entscheidender: Die Wissenschaft hängt nicht nur von einem sich stetig erneuernden Pool allgemein bekannten Wissens ab, sondern auch von einem stillschweigenden Vertrauen in die kollektive Weisheit der wissenschaftlichen Gemeinschaft, zwischen glaubwürdigen und unglaubwürdigen Hypothesen unterscheiden zu können.
     
    Nun hat dieses idealisierte Bild von den Methoden der Wahrheitsfindung in der Wissenschaftsgemeinde leider ein kleines Manko: jenes nämlich, dass wissenschaftliche Studien zum größten Teil von der Allgemeinheit nicht wahrgenommen werden. Wie eine Untersuchung nach der anderen ergeben hat, finden die meisten wissenschaftlichen Abhandlungen kaum Leser, während ein geringer Prozentsatz sich einer zahlreichen Leserschaft erfreut. Berühmte Naturwissenschaftler werden erheblich öfter zitiert als ihre unbekannteren Kollegen. Wenn ein berühmter Wissenschaftler mit anderen zusammenarbeitet, wird ihm ein unverhältnismäßig hoher Anteil des Resultats zugeschrieben. Und wenn zwei Wissenschaftler – oder zwei wissenschaftliche Teams – unabhängig voneinander die gleiche Entdeckung machen, wird der beziehungsweise das berühmtere am Ende auch da den Lorbeer davontragen. Merton hat dieses Phänomen in Anspielung auf Verse des Matthäus-Evangeliums als den »Matthäus-Effekt« bezeichnet: »Wer hat, dem wird gegeben, und er wird die Fülle haben; dem, der nichts hat, wird aber auch das genommen, was er hat.«
    Man kann einen solchen Matthäus-Effekt durchaus als heuristisches Verfahren verstehen: Es dient Wissenschaftlern als eine Art Sieb, um den immensen Informationsfluss zu kanalisieren, der täglich über sie hereinbricht. Und da es im Wissenschaftsbetrieb eine Menge Überschüssiges gibt – soll heißen, es kommt häufig vor, dass mehrere Wissenschaftler auf die gleiche Hypothese stoßen oder die gleichen Experimente durchführen -, würde der Matthäus-Effekt immerhin das Positivum zuwege bringen, dass manchen Arbeiten, die sonst ebenfalls untergingen, eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil wird. Dennoch: Die mit der Anerkennung von Namen verbundene Macht ist beunruhigend. So erzählt der Genetiker Richard Lewontin eine Geschichte von zwei Abhandlungen, die er gemeinsam mit dem Biochemiker John Hubby verfasst hatte und die nacheinander in derselben Ausgabe einer wissenschaftlichen Zeitschrift als Beiträge erschienen. Die zwei Abhandlungen, schreibt Lewontin, »stellten nach Konzeption, Aufbau und Stil eine echte Gemeinschaftsarbeit dar«. Bei einer Abhandlung wurde als Verfasser zuerst Hubby, bei der anderen Lewontin zuerst genannt. Es gab keinen offenkundigen Grund, warum eine der beiden Abhandlungen größeres Interesse hätte wecken sollen. Doch der Beitrag, als dessen Verfasser zuerst Lewontin genannt wurde, wurde dann in der wissenschaftlichen Fachliteratur um 50 Prozent häufiger zitiert. Lewontin kann es sich nur so erklären, dass er als Genetiker zu jenem Zeitpunkt bereits recht bekannt, während Hubby ein noch relativ unbeschriebenes Blatt war. Bei der Abhandlung mit dem Namen Lewontins vorweg vermuteten die Kollegen, dass es in höherem Maße auf seinen Arbeiten fußte und deshalb wertvoller sein müsse.
    Die Sache hat natürlich auch eine Kehrseite, die wahrlich nicht unproblematisch ist – geht doch die Hochachtung, die illustren Namen gezollt wird, mit einer Neigung zur Missachtung unbekannterer Forscher einher. Diesen Tatbestand hat der Physiker Luis Alvarez bereits vor Jahrzehnten mit folgender Erklärung zu rechtfertigen versucht: »In der Physik herrscht keine Demokratie. Man kann nicht so tun, als ob irgendein zweitrangiger Kerl das gleiche Recht auf eine Meinung hat wie [Enrico] Fermi [ein italienischer Nobelpreisträger des Jahres 1938, dessen Arbeiten wesentlich zur Nutzung der Kernenergie beitrugen].« Solche Einstellung mag im Sinne einer Ökonomie der Aufmerksamkeit verständlich sein – da man

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