Die weiße Bestie: Thriller (German Edition)
von einer Zahl auf eine andere Reihe mitnehmen sollte. Und dann sollte 26 durch 2 geteilt werden– das war eine der schwierigen Aufgaben. Sie wusste, sie hatten gelernt, wie man das richtig machte, aber gerade jetzt konnte sie sich nicht daran erinnern. Also zeichnete sie sechsundzwanzig kleine Punkte unten auf das Heft, das vor ihr auf dem Pult lag, malte um jeden zweiten Punkt einen Kreis und zählte die Punkte mit einem Kreis. Dreizehn! Ihr Finger schnellte in die Höhe und Sally saß mit geradem Rücken und gestrecktem Arm da, bis die Lehrerin sie sah. Sie hatte es vor den Klassenkameraden geschafft, die jetzt auch damit begannen, ihre Hände in die Luft zu strecken.
» Ja, Sally, was ergibt das « , fragte ihre nette Lehrerin.
» Dreizehn « , antwortete Sally stolz.
» Das ist richtig. « Die Lehrerin lächelte.
Sally erwiderte das Lächeln. Es war wohl doch gut, dass ihre Mutter ihr das mit den Punkten und den Kreisen gezeigt hatte. Aber sie musste lernen, es auf die richtige Art zu machen; das musste man ganz sicher können, um Lehrerin werden zu können. Denn das war es, was Sally wollte. Sie wollte ebenso klug und nett und hübsch wie ihre eigene Lehrerin sein. Und ebenso schön angezogen! Die meisten der Frauen im Dorf trugen Kleider, die schmutzig oder alt waren, aber nicht die Lehrerin. Sie hatte immer einen schicken, langen Rock und eine weiße Bluse an, die aussahen, als seien sie neu. So wollte Sally auch aussehen, wenn sie eines Tages alt und geschickt genug sein würde, um zu unterrichten.
Sie schaute sich in dem dunklen, staubigen Klassenzimmer um. In der Wand waren vier Löcher, zwei auf jeder Seite des Raumes, aber sie lagen zu hoch, um hinausschauen zu können.
An dem einen Ende des Raumes hing eine alte Tafel, ansonsten war das ganze Zimmer mit ihr und ihren Klassenkameraden gefüllt. Die einzige Stelle, an der sich keine Kinder befanden, war in der hintersten Ecke, wo sie ihr Frühstück hinlegen sollten. Die ältesten Schüler der Klasse saßen an Pulten, die jüngsten eng zusammen auf dem Boden vor den Pulten, ihre Hefte auf dem Schoß. Sally war zum Glück alt genug.
Fünfundfünfzig Schüler gingen in die Klasse, aber keineswegs kamen alle jeden Tag in die Schule. Viele hatten einen weiten Weg zurückzulegen, und an manchen Tagen mussten sie ihren Müttern und Vätern so viel helfen, dass sie nicht in die Schule kommen konnten. Glücklicherweise schaffte es Sally fast immer, weil ihre Mutter es für wichtig hielt. Aber selbst wenn ihre Mutter sie in die Schule gehen ließ, würde es dennoch schwer werden, Lehrerin zu werden, das wusste sie. Damit das möglich sein würde, müsste es in Nairobi einige Onkels geben, die dafür bezahlen würden, dass sie viele Jahre in die Schule gehen konnte, und ihre Mutter hatte gesagt, Sally solle nicht damit rechnen. Es war nicht sicher, ob die Onkel in der Stadt so viel Geld hatten, und wenn sie es hatten, würden sie es vermutlich nicht für Sally ausgeben. Ihr großer Bruder wollte vielleicht auch viele Jahre studieren, und so wäre kaum genug Geld da, damit auch sie das tun konnte.
Sally wusste das gut, aber sie wollte sich dennoch Mühe geben. Dann würde sie auf jeden Fall tüchtig genug sein, um viele Jahre in die Schule gehen zu können.
Aus diesem Grund lieh sie sich auch Bücher von der Lehrerin aus und übte lesen, sobald sie damit fertig war, der Mutter dabei zu helfen, Brennholz zu holen, Essen zu kochen und die Hütte zu fegen. Wenn sie nur mehr Zeit hätte, könnte sie noch fleißiger sein. Wenn sie nur ein Junge wäre.
Manchmal konnte sich Sally über ihren großen Bruder David nur ärgern. Das sagte sie selbstverständlich niemandem, aber sie dachte, es war dumm, dass er so viel Zeit hatte, Bücher zu lesen, und es dennoch nicht tat. Er lief vielmehr herum, um mit seinen neuen Shorts, Surfershorts, wie er sie nannte, zu protzen. So etwas Merkwürdiges, Kunterbuntes, das nach Sallys Meinung viel zu tief saß.
Er war einmal einer der Besten in seiner Klasse gewesen, und es gab noch immer eine Chance für ihn, auf die Strathmore-Schule in Nairobi zu gehen. Jedes Jahr bekamen einige arme, tüchtige Jungs aus dem Dorf die Erlaubnis, vollkommen gratis dort in die Schule zu gehen. Denk nur mal, Strathmore! Aber stattdessen redeten sowohl der Bruder als auch der Vater die meiste Zeit davon, für diese Ölfirma zu arbeiten und viel Geld zu verdienen.
Sally wusste nicht, ob man in der Ölfirma viel Geld verdienen konnte, aber das
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