Die Weiße Burg
für jene, die es sehen und ihr Missfallen erkennen konnten. »In Shadar Logoth dachte ich, ich würde es mir einbilden. Vor drei oder vier Tagen war ich halb davon überzeugt, dass ich mich geirrt hatte. Jetzt bin ich sicher, dass es so ist. Wenn Männer in Schüben an Stärke gewinnen, kann keiner sagen, wie stark er werden wird.«
Natürlich sprach sie ihre offensichtliche Sorge nicht aus: dass er stärker als sie werden würde. So etwas zu sagen wäre auf vielerlei Weise undenkbar gewesen, und auch wenn sie sich irgendwie daran gewöhnt hatte, das Undenkbare zu tun - die meisten Schwestern wären bei der Vorstellung, mit einem Mann, der die Macht lenken konnte, den Bund einzugehen, in Ohnmacht gefallen -, bereitete es ihr stets Unbehagen, es auszusprechen. Cadsuane hatte damit kein Problem, aber sie hielt ihre Stimme ausdruckslos. Beim Licht, sie hasste es, taktvoll sein zu müssen. Das heißt, sie hasste zumindest die Notwendigkeit.
»Merise, er scheint zufrieden zu sein.« Merises Behüter schienen immer zufrieden zu sein; sie hatte sie gut im Griff.
»Er ist voller Zorn...« Sie berührte die Schläfe, als wollte sie das Bündel an Emotionen betasten, das sie durch den Bund fühlte. Sie war wirklich aufgebracht! »Keine Wut. Frustration.« Sie griff in ihre grüne Gürteltasche aus Leder und holte eine kleine, emaillierte Anstecknadel hervor, eine gewundene Gestalt in Rot und Schwarz, die wie eine Schlange mit Beinen und einer Löwenmähne aussah. »Ich weiß nicht, wo der junge al'Thor das herhat, aber er hat es Jahar gegeben. Für einen Asha'man ist das wohl das Gleiche, als würde er die Stola erringen. Natürlich musste ich es ihm abnehmen; Jahar ist noch immer in dem Stadium, wo er lernen muss, dass er nur das annehmen kann, was ich ihm erlaube. Aber er ist wegen dieses Dings so aufgebracht... Sollte ich es ihm zurückgeben? In gewisser Weise würde es dann von meiner Hand kommen.«
Cadsuanes Brauen schoben sich nach oben, bevor sie es verhindern konnte. Merise fragte sie wegen eines ihrer Behüter nach Rat? Natürlich war sie es gewesen, die überhaupt erst den Vorschlag gemacht hatte, dem Mann auf den Zahn zu fühlen, aber dieser Grad von Intimität war... Undenkbar? Hah! »Ich bin sicher, was auch immer Ihr entscheidet, wird gut sein.«
Mit einem letzten Blick auf Nynaeve ließ sie die Frau zurück, wie sie mit dem Daumen über die Anstecknadel strich und finster in den Hof sah. Lan hatte Jahar erneut besiegt, aber der junge Mann nahm wieder Aufstellung und verlangte einen weiteren Kampf. Wie auch immer Merise sich entschied, sie hatte bereits eine Sache gelernt, die ihr nicht gefiel. Die Grenzen zwischen Aes Sedai und Behüter waren immer so klar wie die Verbindungen gewesen; Aes Sedai befahlen, und Behüter gehorchten. Aber wenn sich von allen Leuten ausgerechnet Merise wegen einer Anstecknadel aufregte - Merise, die ihre Behüter mit strenger Hand geführt hatte -, dann würde man neue Grenzen abstecken müssen, zumindest mit Behütern, die die Macht lenken konnten. Es erschien unwahrscheinlich, dass die Verbindung mit ihnen jetzt aufhören würde; dafür war Beldeine der Beweis. Die Menschen veränderten sich eigentlich nie, aber die Welt tat es, und zwar mit beunruhigender Regelmäßigkeit. Damit musste man einfach leben - oder es zumindest aussitzen. Dann und wann konnte man mit Glück die Richtung dieser Veränderungen beeinflussen, aber selbst wenn man eine Veränderung aufhielt, setzte man nur eine andere in Gang.
Wie erwartet fand sie die Tür zu den Gemächern des Jungen nicht unbewacht vor. Natürlich war Alivia da; sie saß auf einer Bank neben der Tür, die Hände geduldig im Schoß gefaltet. Die hellblonde Seanchanerin hatte sich selbst zu einer Art Beschützerin des Jungen ernannt. Alivia hatte es ihm zu verdanken, dass man sie vom Kragen einer Damane befreit hatte, aber es steckte noch mehr dahinter. Min konnte sie beispielsweise nicht ausstehen, und es handelte sich nicht um die übliche Art der Eifersucht. Alivia schien kaum zu wissen, was Männer und Frauen zusammen taten. Aber da war eine Verbindung zwischen ihr und dem Jungen, eine Verbindung, die sich in Blicken zeigte, die auf ihrer Seite Entschlossenheit und auf seiner Hoffnung verriet, so schwer das auch zu glauben war. Bis Cadsuane genau wusste, worum es da ging, wollte sie nichts unternehmen, um sie zu trennen. Alivias scharfe blaue Augen musterten Cadsuane mit respektvollem Misstrauen, aber sie sah keine Feindin.
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