Die Weiße Burg
leerer Magen führte immer dazu, dass man fror. Man hatte noch nie beobachten können, dass sie fror. Oder?
»Danke, Mutter«, sagte Egwene leichthin, was ein leises, geschnaubtes Lachen auslöste. Und einen schockierten Blick. Trotz aller Freiheiten, die sich Chesa herausnahm, war sie eine Pedantin, die Aledrin locker erscheinen ließ. Jedenfalls im Geiste, und oft auch in der Tat. »Dank Eurem Tee habe ich heute keine Kopfschmerzen.« Vielleicht war es der Tee gewesen. So widerwärtig er auch schmeckte, war er auch nicht schlimmer, als eine Sitzung des Saals zu ertragen, die länger als einen halben Tag dauerte. »Und ich bin wirklich nicht besonders hungrig.«
Natürlich ging das nicht so einfach. Die Beziehung zwischen Herrin und Dienerin war niemals einfach. Man lebte im Ärmel des anderen, und sie erlebte einen in den schlimmsten Augenblicken, kannte alle Fehler und Schwächen. So etwas wie Ungestörtheit vor seiner Leibdienerin gab es nicht. Chesa murrte die ganze Zeit kaum hörbar vor sich hin, während sie Egwene beim Ausziehen half. Als Egwene dann am Ende in einen Morgenmantel gehüllt war - natürlich aus roter Seide, die an den Rändern mit murandianischer Spitze abgesetzt und mit Sommerblumen bestickt war; ein Geschenk von Anaiya -, ließ sie zu, dass die Dienerin das Leinentuch wegzog, das das Tablett auf dem kleinen runden Tisch bedeckte.
Der Linseneintopf in der Schale war eine erstarrte Masse, aber etwas Machtlenken änderte das, und mit dem ersten Löffel entdeckte Egwene, dass sie doch Appetit hatte.
Sie aß alles auf, auch das Stück blaugeäderten Käse, die etwas verschrumpelten Oliven und die beiden knusprigen braunen Brötchen, obwohl sie aus beiden Kornkäfer pulen musste. Da sie nicht sofort einschlafen wollte, trank sie nur einen Becher von dem gewürzten Wein, der ebenfalls aufgewärmt werden musste und darum etwas bitter war, aber Chesa strahlte zustimmend, als hätte sie das Tablett geleert. Ein Blick auf das Geschirr, das bis auf die Olivenkerne und ein paar Krümel geleert war, machte ihr bewusst, dass sie es tatsächlich getan hatte.
Sobald sie auf ihrer schmalen Pritsche lag, zwei weiche Wolldecken und ein Federbett bis ans Kinn gezogen, nahm Chesa das Tablett, blieb aber am Zelteingang stehen. »Soll ich zurückkommen, Mutter? Falls Ihr wieder Kopfschmerzen bekommt... Nun, diese Frau hat Gesellschaft gefunden, sonst wäre sie längst hier.« In den Worten »diese Frau« lag offene Verachtung. »Ich könnte Euch noch eine Kanne Tee kochen. Ich habe ihn von einem Marketender, der behauptete, er wäre bei Kopfschmerzen unschlagbar. Und auch bei Magenschmerzen und Gelenkschmerzen.«
»Haltet Ihr sie wirklich für ein leichtes Mädchen, Chesa?«, murmelte Egwene. Unter den Decken war es schon warm, und sie fühlte sich schläfrig. Aber sie wollte noch nicht schlafen. Kopf und Glieder und Magen? Nynaeve hätte sich krankgelacht, hätte sie das gehört. Vielleicht waren es doch all diese unaufhörlich redenden Schwestern gewesen, die ihre Kopfschmerzen vertrieben hatten. »Halima flirtet, aber ich glaube nicht, dass sie jemals weitergegangen ist.«
Einen Augenblick lang schwieg Chesa und schürzte die Lippen. Schließlich sagte sie: »Sie flößt mir... Unbehagen ein, Mutter. Da ist etwas an Halima, das nicht stimmt. Ich fühle es jedes Mal in ihrer Gegenwart. Es ist so, als würde sich jemand hinter mir anschleichen, oder ich würde bemerken, dass mir ein Mann beim Baden zusieht, oder...« Sie lachte, aber es war ein unbehaglicher Laut. »Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es stimmt eben etwas nicht.«
Egwene seufzte und schmiegte sich tiefer unter die Dekken. »Gute Nacht, Chesa.« Sie griff kurz nach der Macht und löschte die Lampe. »Ihr schlaft heute in Eurem eigenen Zelt.« Halima würde sich vielleicht aufregen, wenn sie kam und jemand anderen auf ihrer Pritsche vorfinden würde. Hatte die Frau wirklich einem Mann den Arm gebrochen? Der Mann musste sie irgendwie provoziert haben.
Sie wollte Träume in dieser Nacht, unbeschwerte Träume - zumindest Träume, an die sie sich erinnern konnte; nur wenige ihrer Träume hätte man als unbeschwert bezeichnen können -, aber zuerst musste sie eine andere Art von Traum betreten, und was das anging, war es einige Zeit her, dass sie dafür hatte schlafen müssen. Sie brauchte auch keines der Ter'angreale , die der Saal so beschützte. In eine leichte Trance hinüberzugleiten fiel nicht schwerer, als sich dazu zu
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