Die weiße Frau von Devils Rock
Einzelheiten einzuprägen, um den Weg zurück wieder zu finden. Dann jedoch wurde Christina immer mutiger. Es machte ihr plötzlich Spaß, wie eine Erwachsene durch die Straße zu laufen, ohne genau zu wissen, wohin der Weg sie führte.
Bald hatte das Mädchen die letzten Häuser hinter sich gelassen. Weites, unberührtes Land lag vor Christina. Sie blieb stehen und ließ ihren Blick über die Wiesen schweifen, die im Dämmerlicht geheimnisvoll anmuteten.
Nicht weit entfernt gabelte sich der Weg.
Christina jedoch nahm zielstrebig den linken Abzweig. Später hätte sie nicht mehr sagen können, weshalb sie ausgerechnet diesen gewählt hatte. Er führte nach einigen Kurven zu einer halb verfallenen Hütte, die zum Teil von einer niedrigen Mauer umgeben war.
In einem der kleinen Fenster konnte man ein zitterndes Licht erkennen, das von einer Kerze stammte. Es bildete einen kleinen Bogen, der nur einen geringen Teil erhellte.
Einen Moment lang zögerte Christina, weil sie plötzlich den Anflug von Angst verspürte. Doch das war gleich wieder verschwunden. Die Neugierde war einfach stärker.
Sie marschierte auf das schiefe Tor zu und schob es nach innen auf. Es knirschte, als würde es gleich aus den Angeln rutschen und zu Boden fallen.
Plötzlich wurde die hölzerne Haustüre geöffnet. Die Frau, die aus der Türe trat, schien alterslos zu sein. Interessiert musterte sie ihren kleinen Gast und lächelte dann. "Du willst zu mir?" Sie war nicht gerade klein und von der Statur her untersetzt. Dadurch strahlte sie eine mütterliche Gemütlichkeit aus, die etwas Vertrauen erweckendes hatte.
"Das weiß ich nicht", antwortete Christina nach kurzer Überlegung. Sie war stehen geblieben, als müsste sie überlegen, ob es nicht vielleicht doch besser war, davonzulaufen. "Ich bin eigentlich nur spazieren gegangen."
"Ich weiß", antwortete die Frau und lächelte noch breiter. "Schließlich hab ich dich zu mir gerufen." Sie machte eine einladende Handbewegung. "Magst du etwas essen?"
Das Mädchen schüttelte den Kopf. "Warum hast du mich gerufen?"
"Komm erst einmal ins Haus. Es ist jetzt schon ziemlich kühl, und ich möchte nicht, dass du dir eine Erkältung holst. Deine Eltern würden mir das nie verzeihen. Immerhin hast du noch eine sehr wichtige Mission zu erfüllen. Aber das kann ich dir jetzt noch nicht erklären. Du wirst es selbst erfahren, wenn die Zeit dafür gekommen ist." Lächelnd trat sie zur Seite, um Christina ins Haus zu lassen.
Es war wie in einem Traum. Ohne darüber nachzudenken, setzte das Mädchen einen Fuß vor den anderen und gelangte schließlich über zwei ausgetretene Steintreppen ins Innere des alten Häuschen s.
Der beheizte Raum strahlte eine wohlige Atmosphäre aus. Er war in goldfarbenes, etwas düsteres Licht getaucht, was besonders anheimelnd wirkte. Auf der rechten Seite stand so etwas Ähnliches wie eine Liege, die man auch zum Sitzen benützen konnte. Bunte Kissen lagen verstreut darauf, was dem ganzen einen gemütlichen Anstrich verlieh.
"Magst du ein Glas Milch?"
Christina schüttelte den Kopf. "Danke, ich möchte nichts", antwortete sie artig. "Wer sind Sie?"
"Du kennst mich nicht. Unsere Seelen jedoch sind verwandt. Wäre nicht dieses furchtbare Unglück passiert, dann könnte ich mich noch an dich erinnern. So jedoch wird meine Mutter für mich immer ein Rätsel bleiben." Die Frau lächelte unergründlich.
Christina fühlte sich zunehmend unbehaglich. "Ich glaube, ich sollte jetzt wieder gehen. Meine Eltern wissen nicht, wo ich bin. Sie werden sich bestimmt schon Sorgen machen."
"Glaube ich nicht“, tat die Fremde ihren Einwand gleichgültig ab. „Manchmal hat man das Gefühl, als würde die Zeit stehen bleiben. Und manchmal bleibt sie stehen, ohne dass man es merkt. Ich habe ein Geschenk für dich."
Verwundert beobachtete das Mädchen, wie die Frau etwas schwerfällig zu einer Truhe ging und den Deckel hob. Es quietschte leise, als sie ihn an der dahinter liegenden Wand anlehnte." Ich habe es von meiner Mutter bekommen, und diese wiederum hat es als einzigen Besitz aus ihrer Kinderzeit mitgenommen."
"Was ist das?" Christina war neben die Frau getreten und starrte jetzt verwundert in die fast leere Truhe. Auf dem Holzboden lag, in grobes, schmutziges Leinen gewickelt, etwas, das wie ein sehr altes Buch aussah.
"Ich habe es mein Leben lang gehütet. Jetzt bist du dran.
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