Die weiße Frau von Devils Rock
aufgeschlagen, aber schon ziemlich in der Mitte. Was hatte das zu bedeuten? War dies vielleicht eine Seite, die sie jetzt lesen sollte, weil etwas Wichtiges drin stand?
Christina schwang ihre dünnen Beinchen aus dem Bett und lief barfüßig zu dem Tischchen. Im Zimmer war es ziemlich kalt und sie spürte, wie sich ihr sämtliche Härchen auf den Beinen und Armen aufstellten. Vorsichtig nahm sie das Buch und fühlte sich mit einem Mal wie in eine andere Welt versetzt. Ihr Herz klopfte heftig, während sie versuchte, die Worte auf den schon ziemlich vergilbten Seiten zu entziffern.
"Er hat mich geschlagen", las sie leise und zuckte zusammen. "Peter ist jetzt immer betrunken, wenn er nach Hause kommt, und ich rieche, dass er nicht vom Schiff kommt sondern aus einer Bar. Und da arbeitet diese Simone. Mit ihr trifft er sich und kommt erst gegen Morgen heim. Es stört ihn, dass ich sein Kind unter dem Herzen trage. Aber ich werde ihn deshalb nicht verlassen. Ich liebe ihn doch so sehr."
Christina fiel es sehr schwer, sich diese letzten Worte in Zusammenhang mit einem Mann namens Peter vorzulesen. Eine seltsame Scheu hielt sie davon ab, als würde sie dieser Treuebruch eines Menschen, den sie gar nicht kannte, persönlich betreffen.
Liebevoll streichelte das Mädchen über die rauen Papierseiten und fühlte sich in diesem Moment gar nicht wie die Neunjährige, die sie war sondern wie ein durch viel Leid vorzeitig erwachsen gewordenes Kind, das, von Ängsten geplagt, am liebsten weggelaufen wäre.
Hastig zog sie die Hand zurück, als hätte sie sich an dem Buch verbrannt. Dann holte sie den Leinenstoff und wickelte ihn wieder um das Tagebuch, das sie danach sorgfältig in ihrer Reisetasche verstaute.
Christina war wie gefangen von den Worten, die sie gelesen hatte. Welch ein schreckliches Schicksal einer jungen, zunächst sehr glücklichen Frau würde sich ihr offenbaren, wenn sie weiter las? Würde sie je erfahren, warum ausgerechnet sie, Christina, dieses Buch geschenkt bekommen hatte?
Eilig zog das Mädchen sich an, nachdem es sich hastig mit kaltem Wasser gewaschen hatte. Die langen Haare band sie mit einer Spange zusammen, und dann zog sie noch ihre warme Jacke über, die die Mutter ihr mit viel Liebe gestrickt hatte.
Einen Moment lang blieb Christina am Spiegel stehen und starrte in ihr eigenes Gesicht. Die Erscheinung fiel ihr wieder ein, die sie kurz vor Antritt ihrer Reise im Spiegel gesehen hatte. Sie wartete eine ganze Weile, aber nichts geschah. Vermutlich hatte sie sich das nur eingebildet wie alles andere auch, das sie nicht verstehen konnte.
5. Kapitel
Es war noch heller Tag, als Pete, der Kutscher, laut verkündete, dass sie eben das Straßenschild passiert hatten, auf dem Glannagan angeschrieben war. Jetzt war es nicht mehr weit bis zu dem Treffpunkt, den Ashton mit seinem früheren Studienkollegen ausgemacht hatte.
Interessiert schaute Charlene aus dem Fenster. Noch konnte sie gut die Landschaft betrachten, die sich vor ihr ausbreitet. So rau und doch gleichzeitig romantisch hatte sie es sich nicht vorgestellt. Inmitten weiter, hügeliger Grünflächen lagen, wie ausgestreut, kleinere und große Felsbrocken, die diese Eintönigkeit unterbrachen. Letzten Sonnenstrahlen huschten vorbei und blendeten sie. Charlene schloss die Augen.
"Hast du gehört, Christina? Gleich hat unsere Leidenszeit ein Ende", versuchte Charlene einen kleinen Scherz, der jedoch auch den Tatsachen entsprach. Die junge Frau fühlte sich unendlich müde und wie gerädert.
Christina antwortete nicht. Sie hatte ebenfalls die Augen zu, denn die Ereignisse der letzten Nacht beschäftigten sie noch immer. Würde es da nicht das alte Tagebuch geben, dann würde sie glauben, dass sie alles nur geträumt hatte. So jedoch wusste sie das seltsame Geschenk der alten Frau wohl behalten in ihrer Reisetasche zusammen mit ihrem geliebten Püppchen Thissa.
Es dauerte nicht mehr lange, da verlangsamte die Kutsche ihre Fahrt. "Wir sind da, Sir", rief Pete vom Kutschbock. Dann sprang er herunter und öffnete die Tür.
Ashton stieg als erster aus. "Wo steckt Marvin?" Er schaute sich suchend um, dann entdeckte er ihn. "Marvin." Erfreut lief Ashton auf ihn zu. "Da bist du ja. Hoffentlich haben wir dich nicht so lange warten lassen. Schneller ging es beim besten Willen nicht." Lachend fielen sich die beiden Männer in die Arme. Auch Dr. Marvin Rowland schien sich von
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