Die weiße Frau von Devils Rock
gebildet hatte.
"Nein, ich träume das alles nur", murmelte der Arzt vor sich hin. "Es ist nur ein Traum, Marvin, und gleich wirst du zuhause in deinem Bett wieder aufwachen." Er kniff sich erneut in den Arm, doch das gespenstische Bild blieb, das sich ihm bot.
Sie sah aus wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Ihr blassrotes Kleid bildete einen auffallenden Kontrast du der schmutzig weißen Umgebung, und ihr langes braunes Haar fiel wie ein seidener Vorhang bis weit über ihre schmalen Schultern. Sie lief eilig den Weg entlang, als hätte sie ein bestimmtes Ziel.
Fasziniert beobachtete Marvin das seltsame Schauspiel, das sich ihm bot. Er vergaß zu atmen und merkte auch nicht, dass seine Finger die Zügel los ließen und diese fast geräuschlos auf den Holzboden seines Einspänners fielen.
Rasch näherte sich die Frau dem Pferd, doch gleichzeitig sah es auch so aus, als würde sie sich nicht von der Stelle bewegen. Wind bewegte ihr Kleid und ihr langes Haar, obwohl sich kein Lüftchen regte. Es roch nach Moder und nasser Erde.
Endlich spürte Marvin seinen Körper wieder. Ihm war, als hätte er eine Ewigkeit in dieser unerträglichen Starre verbracht, als sei er tot gewesen und auch wieder nicht. Eine Gänsehaut kroch über seinen Rücken und seine Arme. Noch immer war er nicht fähig, den Blick von der Erscheinung zu wenden, die ihn anscheinend nicht bemerkte.
Langsam erhob sich der Mann und stieg aus dem Wagen aus. Die Räder quietschten leise, was ihn zusammenzucken ließ. Er hielt inne und starrte zu der Frau, die noch immer ein kleines Stückchen über dem Boden dahin schwebte, als würden sie die Naturgesetze gar nichts angehen.
Er überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Dass diese Gestalt kein Mensch aus Fleisch und Blut war erkannte er auf den ersten Blick. Gleichzeitig aber sagte er sich, dass er nicht an Spuk glaubte, weil dies allem widersprach, was er je in seinem Leben gelernt und gelesen hatte.
Abwartend blieb er an seiner Kutsche stehen, bereit, sofort wieder aufzuspringen, wenn die Erscheinung sich ihm näherte. Doch nichts dergleichen geschah. Der Nebel schien, ebenso wie die Zeit, stillzustehen.
Marvin schloss die Augen und riss sie wieder auf. Das unheimliche Bild vor ihm blieb. Plötzlich fiel im wieder die Geschichte ein, die er vor einiger Zeit von einer Patienten gehört hatte. Bereits seit über hundert Jahren sollte es in dieser Gegend spuken. Die weiße Frau von Devils Rock trieb hier immer wieder ihr Unwesen. Meist kam sie im zeitigen Frühling oder im Spätherbst, wenn die Nebel über dem Moor standen.
Was sollte das bedeuten?
Der Arzt stand vor einem Rätsel. Noch immer weigerte sich sein Verstand, das zu glauben, was er deutlich sehen konnte. Die unheimliche Frau war jetzt kaum einen Steinwurf von ihm entfernt. Wenn er die Hand ausstreckte, und sie ebenfalls, hätten sie sich berühren können.
"Was willst du?"
Offensichtlich hatte die Erscheinung seine Worte gehört. Fragend blickte sie ihn an. Ihre Lippen bewegten sich, doch kein Laut war zuhören.
Fasziniert bemerkte Marvin, dass die Frau strahlend blaue Augen hatte. Überhaupt lag auf ihrem Gesicht eine Sanftheit, die sein Herz berührte. Eine grenzenlose Traurigkeit stieg in ihm auf. Er wollte sich ihr entziehen, doch das war nicht möglich. "Wer bist du?", fragte er noch einmal. "Rede mit mir". Seine Stimme zitterte.
Ein kaum merkliches Lächeln umspielte plötzlich die blassen Lippen der Frau. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte nichts hören. Und doch waren in seinem Kopf die Worte, die ihr Mund formte. Wir sehen uns, schien sie zu flüstern. Dann drehte sie sich um und schwebte auf das nahe Moor zu. Wenig später war sie verschwunden.
Noch immer stand Marvin da als hätte ein Blitz ihn angerührt. Eben noch war er unfähig gewesen, überhaupt etwas zu denken. Jetzt jedoch überschlugen sich in seinem Kopf die Gedanken, und Geschichten, die er irgendwann einmal von erdgebundenen Seelen gehört hatte, kamen ihm ins Gedächtnis.
Er brauchte noch eine ganze Weile, bis er sich einigermaßen gefasst hatte. Jetzt konnte er wieder klar denken, nur diese seltsame Traurigkeit wollte einfach nicht weichen. Er hatte auf einmal das Gefühl, etwas verloren zu haben, das ihm sehr wichtig gewesen war.
Seine Beine fühlten sich schwer wie Blei an, als er in seinen Einspänner stieg. Jetzt erinnerte er sich wieder daran, dass er ja ein
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