Die weiße Frau von Devils Rock
" Was ist nur mit Peter geschehen? Meinem lieben, verständnisvollen Ehemann, der nur für seine Familie gelebt hat? Was ist es, das ihn so verändert hat? Wir haben bald nichts mehr zu essen, und Geld bringt er auch keines mehr nach Hause. Laird Andrew wird siegen, ich spüre es genau. Lange werde ich mich nicht mehr gegen ihn wehren können, denn wir müssen ja leben, Thissa und ich ."
Thissa!
Da war er schon wieder, dieser Name, der für Ashton das schlimmste Reizwort überhaupt war. Die Frau, die Schreiberin, hatte also eine Tochter dieses Namens gehabt. Und ihr Mann Peter hatte das ganze Geld, das er verdiente, in Alkohol umgesetzt.
Jetzt fiel ihr auch wieder die Geschichte ein, die Marvin ihr vor einigen Tagen erzählt hatte. Ihr Verstand hatte sie, nachdem sie auf der Heimfahrt plötzlich in Ohnmacht gefallen war, bis eben verdrängt. Doch nun war die Erinnerung wieder da, ganz klar, deutlich und gnadenlos.
"Wer bist du?", fragte Charlene und streichelte über die Buchstaben, die ein trauriges Frauenschicksal offenbarten. "Was ist aus dir geworden, nachdem dein Peter sich umgebracht hat?" Grauen stieg in ihr auf bei der Vorstellung, dass gerade dieser Peter gar nicht so weit von hier entfernt tagelang an einem Baum gehangen hatte.
Sie stand auf und ging in dem ziemlich kleinen Raum umher, den sie als Schlafraum eingerichtet hatten. Hier hatte auch die Frau gelebt, die dieses Tagebuch in einsamen Stunden geschrieben hatte. Damit konnte sie sich wenigstens für eine Weile allen Kummer von der Seele wälzen, denn vermutlich hatte sie nicht einmal eine Freundin oder Familie gehabt, bei der sie sich hätte aussprechen können.
"Oh Peter, was hast du deiner Familie angetan?", fragte sie leise und musste in diesem Moment wieder an Ashton denken. Erwartete sie, Charlene, womöglich dasselbe Schicksal wie die junge Frau, die einst hier gelebt und gelitten hatte?
Ein leises Geräusch ließ sie zusammenzucken. Sie drehte sich hastig um. Im ersten Moment glaubte sie, einen hellen Hauch wahrnehmen zu können. Doch bei genauerem Hinsehen war da nichts.
Charlene setzte sich wieder an den Tisch, sie wollte weiter lesen, mehr von der Frau erfahren, deren Nähe sie mit einem Mal ganz deutlich spüren konnte, ohne dass sie sich dabei fürchtete. Eine leise Hoffnung war in ihr, dass sie in den Aufzeichnungen der Fremden eine Antwort für ihre eigenen Fragen finden konnte.
" Heute war ich bei Laird Andrew ", las sie weiter und erschrak so sehr, als würde es um sie selbst gehen. " Er war sehr freundlich und hat mir erlaubt, dass ich Essen aus der Küche mitnehmen darf. Ich habe mich ihm nicht hingegeben, aber ich sehe ihm an, dass er fest damit rechnet. Was soll ich bloß tun ?"
Charlene schüttelte den Kopf. "Lass die Finger von ihm", flüsterte sie, "wenn du deinen Mann wirklich liebst. Es wird doch noch eine andere Möglichkeit geben." Sie legte eine Hand auf die aufgeschlagene Seite, als könnte sie auf diese Weise Gefühlskontakt mit der Frau aufnehmen, die längst tot war.
"Es gab keine andere Möglichkeit", flüsterte es irgendwo im Raum. "Ich musste es tun. Wir wären sonst verhungert. Du weißt nicht, wie das damals war." Ein kühler Hauch wehte durchs Zimmer.
Charlene erstarrte. Sie wagte nicht, sich umzudrehen. "Wer bist du?", fragte sie halblaut, um Christina nicht mit ihrer Stimme aufzuwecken.
"Du wirst mich finden", flüsterte es, und im Raum wurde es noch kälter. "Ich habe dich gerufen, damit endlich alles ans Licht kommt. Ich will mein Kind. Es ist mein Kind", flüsterte die Stimme. Die Öllampe begann zu flackern, und dann erlosch sie.
Jetzt war es stockdunkel im Raum.
Charlene begann zu zittern. Sie wusste, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging und auch, dass es mit dem Tagebuch zusammen hing. "Du willst nicht, dass ich weiterlese", fragte sie leise in den Raum hinein.
"Nicht heute", kam die Antwort, doch sie war so leise, dass man glauben konnte, sie würde sich entfernen. "Ich will alles, es ist mein." Die Worte klangen wie eine Drohung.
"Was willst du?" Endlich spürte Charlene ihren Körper wieder. Sie sprang auf und drehte sich um. "Wo bist du? Rede mit mir und zeig dich, sonst muss ich glauben, dass ich wahnsinnig werde. Sag, was du willst."
"Ich bin die Mutter", hauchte die Stimme. Sie war jetzt so schwach, dass sie sich kaum mehr artikulieren konnte. "Lass sie frei, ich bitte dich. Wenn du es
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