Die weiße Frau von Devils Rock
Leslie einen Besuch abstatten sollte, doch dann entschloss sie sich dagegen. Gerade der See hatte eine geheimnisvolle Anziehungskraft auf sie.
An diesem Morgen schien sogar die Sonne, obwohl es in der Nacht, wie meistens, geregnet hatte. Der Boden war weich, und auf dem geschotterten Weg gab es einzelne kleine Pfützen, die noch nicht genügend Zeit zum Versickern gehabt hatten, weil das Erdreich ohnehin voller Wasser war.
Zuerst überlegte sie, ob sie Benjamins Seelengarten inspizieren sollte, ohne seine Anwesenheit und ohne seine Kommentare. Doch dann entschied sie sich dagegen. Zum See wollte sie gehen und dort am Ufer sitzen und nachdenken. So viel war in der Vergangenheit auf sie eingeströmt, das sie nicht begreifen konnte.
Die kleine Bank stand nicht weit vom Ufer entfernt. Hohes Gras vom letzten Jahr stand am Wasserrand, grau und verdorrt, weil niemand es abgeschnitten hatte. Überhaupt war um den See herum alles urwüchsig und so belassen, wie die Natur es geschaffen hatte.
Christina setzte sich und lehnte den Kopf ein wenig zurück. Sie schloss die Augen. Fremde Geräusche waren zu hören, die sie aus der Stadt, wo sie aufgewachsen war, nicht kannte. Ein kühler Luftzug streichelte ihr Gesicht, und es fühlte sich an wie ein sanftes Streicheln. Noch ehe Christina wieder die Augen öffnen konnte war sie auch schon eingeschlafen.
Eine liebevolle Hand legte sich auf die ihre. Das Mädchen lächelte vor sich hin. "Bist du endlich wieder da, Mummy?", fragte sie glücklich. "Ich habe dich so vermisst. Tut es sehr weh?"
"Es ist in Ordnung", antwortete eine liebevolle Frauenstimme. "Du darfst deinem Dad nicht böse sein deshalb. Er hat nur getan, was er tun musste. Bald werden wir wieder zusammen sein. Hab noch ein wenig Geduld."
"Ich freu mich so auf dich, Mummy", murmelte Christina jetzt wieder und öffnete langsam die Augen. Noch immer war da der See, der verträumt mitten im Park von Rochester Castle lag, und auch das hohe Gras an seinem Ufer stand da, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres auf dieser Welt.
Und doch hatte sich etwas verändert. Die Bank fühlte sich anders an, war rauer und klobiger, und nicht weit von hier entfernt konnte sie eine Frau und einen Mann hören, die sich offensichtlich heftig stritten.
Das Mädchen stand auf. "Mum?"
"Bleib wo du bist, Thissa!", rief die Frau erregt. "Wir gehen gleich. Ich muss nur noch mit dem Laird…"
Ein lautes Klatschen war zu hören, als wäre jemand geschlagen worden. Die Frau schrie auf, und dann war es mit einem Mal ganz still. Schließlich wurde leises Wimmern hörbar. "Nicht, Andrew", bettelte die Frauenstimme. "Ich kann doch nichts dafür. Es ist dein Kind, das ich unter dem Herzen trage. Verstoße mich nicht, wo soll ich denn hin?"
Eine laute Mannerstimme war jetzt zu hören, aber die sagte nur Unverständliches. Jedenfalls konnte das Mädchen, das mit Thissa angesprochen worden war, nichts damit anfangen. Vorsichtig, um kein unnötiges Geräusch zu verursachen, schlich es zu dem kleinen Wäldchen, das im hellen Sonnenlicht freundlich und einladend aussah.
Dann sah sie die beiden Menschen, die sich wie Kampfhähne gegenüber standen. Den Mann hatte sie schon gesehen, vor ihm fürchtete sie sich, vor allem, wenn er so zornig war wie gerade eben.
Die Frau war – ihre Mutter. Doch sie sah anders aus, kleiner und dunkelhaarig. Aber sie spürte, dass es ihre Mutter war. Dennoch kam sie in Zweifel, denn sie hatte Mum blond in Erinnerung gehabt.
"Bitte nicht streiten", begann sie unvermittelt und zitterte am ganzen Körper. "Ich habe Angst, wenn ihr so böse miteinander seid."
"Warum hast du dieses Kind mitgeschleppt? Du weißt, ich kann diese Kröten nicht ausstehen." Wütende Augen starrten sie an, die feurige Blitze auf sie abzuschießen schienen. "Verschwinde, hörst du nicht? Sonst wirst du mit meiner Peitsche Bekanntschaft machen."
"Vergreif dich nicht an Thissa, Andrew, sonst…"
"Sonst?" Der Mann lachte laut und meckernd. Mit beiden Händen griff er nach der wunderschönen Frau, riss dabei an ihren Haaren und schüttelte sie grob hin und her. "Sonst?", fragte er noch einmal. "Willst du mir drohen? Du? Ich zertrete dich wie ein lästiges Insekt, wenn ich deiner überdrüssig geworden bin." Wieder lachte er.
Die Frau schluchzte verhalten auf. "Lass mich los, Andrew, ich bitte dich. Thissa und ich werden nach Hause gehen, und du kannst
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