Die weiße Frau von Devils Rock
Spaziergang unternehmen." Er spürte, dass die Ruhe, die er vorhin beim Aufwachen noch gefühlt hatte, gänzlich verschwunden war. "Mach dir keine Sorgen. Wenn die Sonne kommt werde ich auch wieder da sein."
"Und wenn es regnet?"
"Es wird nicht regnen", fuhr er sie unbeherrscht an. Dann schlüpfte er eilig in seine Kleidung und verließ mit raschen Schritten das Haus. Die Türe klapperte, dann war es wieder still.
Charlene stand am Fenster und schaute der einsamen Gestalt nach, die in Richtung Devils Rock verschwand. All ihre Hoffnungen waren wieder zerstört, und an Schlafen war ohnehin nicht mehr zu denken. Leise schlich sie die Wendeltreppe nach oben, wo Christina es sich in dem einstigen Kinderzimmer gemütlich gemacht hatte. Einen ganzen Tag lang hatten sie zusammen geräumt und geputzt und die alten Möbelstücke und Spielsachen, die nicht mehr zu gebrauchen waren, in den kleinen Abstellraum neben dem Zimmer gebracht. Inzwischen sah es in Christinas Zimmer schon ganz manierlich aus. Sogar eine Vase hatte das Mädchen aus seinem Gepäck hervor gezaubert und auf das zierliche Tischchen gestellt, das links neben dem Dachfenster seinen Platz gefunden hatte.
Wie eine kleine Prinzessin sah Christina aus. Ihr Gesichtchen war entspannt, und um ihren Mund lag ein kaum merkliches Lächeln. Das dunkle Haar ergoss sich wie eine Flut über das weiße Kissen, und die Hände lagen geöffnet auf der Bettdecke.
Charlene stand eine ganze Weile da und betrachtete ihr Töchterchen, das sie, wenn überhaupt möglich, mit jedem Tag noch lieber gewann als am Tag vorher. Eine heftige Sehnsucht nach ihrer Nähe überkam sie, die sie jedoch bezwang, um sie nicht aufzuwecken.
Mit einem leisen Seufzer wandte sie sich ab. Ihr Blick fiel auf das Tischchen, auf dem das Öllicht fast herunter gedreht war. Es flackerte kaum, und dennoch tanzten wilde Schatten über die Tischplatte.
Da lag es wieder, das Buch, das Charlene schon einmal gesehen hatte. Das war bei ihrer letzten Rast gewesen, und da hatte sie noch gemeint, es würde den Wirtsleuten gehören. Nun war es immer noch da und lag aufgeschlagen neben der Öllampe.
Zögernd nahm Charlene das Buch in die Hand. Das alte, abgegriffene Leder fühlte sich kühl und tot an. Die Frau spürte, wie eine Gänsehaut ihre Nackenhaare und die Härchen auf den Unterarmen sträubte.
Sie schlug das Buch irgendwo in der Mitte auf, dann beugte sie sich zu dem spärlichen Licht hinunter. Die Flamme tanzte wild umher, als würde ein heftiger Luftzug sie berühren. Doch im Zimmer gab es keinen Luftzug, keine Bewegung.
Charlene konnte zwar die Schrift erkennen, aber es war ihr unmöglich, sie zu entziffern. Sie überlegte einen Moment, dann entschloss sie sich, das Buch mit nach unten zu nehmen. Dort konnte sie das Licht größer drehen, ohne ihr Kind beim Schlafen zu stören.
Seufzend kuschelte sie sich in ihre warme Decke und setzte sich an den Tisch. Sie stützte ihren Kopf in die Hände und dachte an Ashton, der jetzt irgendwo draußen in der Nacht umher irrte. Sie hätte ihn nicht zurückhalten können, das wusste sie inzwischen. Wenn er so einen Anfall hatte, konnte sie gar nichts tun.
Traurig barg sie das Gesicht in den Händen. Sie wollte weinen, aber es ging nicht. Vermutlich war die Traurigkeit zu groß zum Weinen.
Sie bemühte sich, nicht über Ashton nachzudenken. Stattdessen wollte sie sich auf dieses geheimnisvolle Buch konzentrieren, das eine ganz seltsame Ausstrahlung auf sie hatte.
Vorsichtig blätterte sie es auf. Eine schön geschwungene Frauenhandschrift füllte das bereits ziemlich vergilbte grobe Papier. Sie konnte es nur schwer entziffern, denn der Schein der Öllampe war mehr als dürftig. Sie zog die Augen zu einem schmalen Schlitz zusammen, dann ging es besser. Warum sie das Buch ausgerechnet in der Mitte aufgeschlagen hatte wusste sie nicht, doch es hatte wohl einen tieferen Sinn.
" Peter verändert sich ", las sie halblaut vor sich hin. Zunächst ging es noch stockend, dann aber immer flüssiger. " Manchmal schaut er mich an als würde er durch mich hindurch sehen. Und dann wieder brennen seine Blicke auf meiner Haut, dass ich es kaum mehr ertragen kann ."
Charlene schaute auf. Kannte sie diese Gefühle nicht auch inzwischen? Ihr wurde ganz mulmig bei der Vorstellung, dass die Schreiberin dieses Tagebuchs ähnliche Gefühle gehabt hatte wie sie selbst, nur weit über hundert Jahre zuvor?
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