Die weiße Frau von Devils Rock
wenigsten Ärzte können bei sich selbst eine Diagnose stellen, vor allem, wenn es um solche Dinge geht wie bei dir. Es wird dir nichts anderes übrig bleiben als dich mit einem Kollegen, der sich besser auskennt als ich, darüber zu unterhalten." Er hatte ein Buch aus dem Regal geholt, das er eigentlich gar nicht gesucht hatte.
"Ach Marvin, ich bin so müde und würde lieber resignieren. Doch da sind Charlene und Christina, die mich brauchen. Zumindest denke ich das." Seine Stimme hatte ihren Klang verändert.
Überrascht schaute Marvin zu seinem Patienten. Für einen Moment lang empfand er ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber, als er an den Kuss dachte, den er mit Charlene in jener Nacht ausgetauscht hatte, als es bei Christina um Leben und Tod ging. Dieses Gefühl hielt jedoch nicht sehr lange an, denn es war ja nur ein freundschaftlicher Kuss gewesen. Zumindest versicherte sich das Marvin immer wieder, obwohl er in seinem Innern längst wusste, dass alles ganz anders war.
"Hilf mir, Marvin, ich bitte dich. Oder versuch es wenigstens. Ich werde nicht zu einem Spezialisten gehen, weil ich nicht glaube, dass es etwas ist, das man erklären kann." Er wusste selbst nicht, was er mit diesen Worten ausdrücken wollte. Sie kamen ihm einfach in den Sinn und er sagte sie.
Marvin hatte ihm gar nicht richtig zugehört. Er hielt das Buch in den Händen und wusste nicht, was er denken sollte. Er kannte dieses Buch nicht und hatte auch keine Ahnung, wie es in seinen Bücherschrank gekommen war. "Chronik von Dragon House". Er las den Titel, der auf dem rohen Ledereinband mühsam eingeritzt worden war. Die Seiten in diesem Buch waren teils schon fast lose und drohten vollends herauszufallen, wenn er sie umblätterte.
"Was hast du gesagt?" Ashton wollte nichts von diesem ominösen Buch hören. Er war enttäuscht von Marvins Reaktion.
"Ich habe dieses Buch noch nie zuvor gesehen, kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie es in mein Regal gekommen ist. Glaubst du an Geister?" Marvin zeigte seinem Freund, was er gefunden hatte. Diese Frage sollte eigentlich ein Scherz sein, doch als er sie ausgesprochen hatte, konnte er nicht darüber lachen. "Kannst du dir vorstellen, wer es mir ins Regal getan haben könnte?" Er überlegte einen Moment. "Ach ja, vielleicht stammt es von der Familie, die vor mir in diesem Haus gewohnt hat. Ich hab ja Teile, auch dieses Bücherregal, von ihnen übernommen. Allerdings habe ich es schon mehrmals sauber gemacht und dabei sämtliche Bücher ausgeräumt und neu eingestellt."
"Na siehst du, es gibt dafür eine ganz normale Erklärung", murmelte Ashton geistesabwesend, denn er konnte beim besten Willen kein Interesse für ein altes Buch aufbringen. "Wenn es für mich auch eine gute Erklärung gibt, die mir hilft, zu meiner Familie zurückzukehren, bin ich zufrieden."
"Gemeinsam werden wir eine finden", murmelte Marvin vor sich hin und schlug das alte Buch auf. "Es ist von einer Frauenhand geschrieben, das kann man deutlich erkennen. Die Frau hieß…" Er nahm das Buch näher an sein Gesicht. "Serena heißt das wohl", sagte er leise.
"Serena." Der Schrei seines Gegenübers ließ ihn vor Schreck zusammenfahren. "Himmel, Ashton, bist du wahnsinnig geworden? Mich hätte eben fast der Schlag getroffen. Warum schreist du denn so?" Der Arzt war bestürzt über die unvorhergesehene heftige Reaktion seines Freundes.
Ashton Darwin war in sich zusammengesunken. "Serena…". Er schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Dabei murmelte er immer wieder diesen Frauennamen vor sich hin.
Marvin war ratlos. Er konnte mit dieser heftigen Reaktion nichts anfangen, keinen Bezug zu irgendeinem Geschehen herstellen. "Bitte rede mit mir. Wer ist Serena und was hast du mit ihr zu tun?"
"Nicht, bitte nicht", wimmerte der Mann. "Ich wollte das alles nicht. Lass mich in Ruhe, einfach nur in Ruhe." Er zitterte am ganzen Körper.
"Sag mir, wer Serena ist", beharrte der Psychologe. "Wenn ich dir helfen soll, musst du ehrlich mit mir sein. Erzähl mir die ganze Geschichte, und dann werden wir gemeinsam nach einer Lösung suchen." Marvin Rowland hatte das alte Buch auf seinen Schreibtisch gelegt. Es war ihm im Augenblick nicht wichtig.
"Sie ist eine Frau in meinem Kopf", bekannte Ashton nach einer Weile, als er sich endlich wieder beruhigt hatte. Es war ihm schwer genug gefallen, mit seinen Problemen zu dem einstigen Studienkollegen
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