Die weiße Frau von Devils Rock
mich vermutlich umbringen wollte. Ich versteh es nicht." Er fuhr sich mit beiden Händen durch das dichte Haar und stöhnte dabei.
Marvin merkte, dass er mit einem Gespräch nicht weiter kam. Er überlegte einen Moment, dann holte er aus seinem Medikamentenschrank eine Schachtel, die er Ashton reichte. "Nimm davon jeden Morgen und jeden Abend eine Tablette. Das wird dich zumindest für eine Weile ruhig stellen, bis uns etwas eingefallen ist."
"Ich möchte keine Beruhigungsmittel", widersprach Ashton. "Die hätte ich mir selbst besorgen können."
"Ich weiß, und doch fällt mir auf die Schnelle nichts Besseres ein. Und du brauchst erst mal rasche Hilfe, ehe noch ein Unglück geschieht. Nächste Woche bin ich für ein paar Tage in London, da werde ich einen Kollegen aufsuchen und ihm deinen Fall schildern. Er ist viel erfahrener als ich auf diesem Gebiet."
Ashton wusste, dass er gar keine andere Möglichkeit hatte als diesen Vorschlag anzunehmen. "Du glaubst also, ich werde verrückt", vermutete er.
Heftig schüttelte sein Gegenüber den Kopf. "Nein, das denke ich ganz bestimmt nicht. Allerdings habe ich in diesem Zusammenhang von einer Art Stoffwechselstörung gelesen, die dem Patienten die irrationalsten Bilder vorspielt, die in Wirklichkeit gar nicht existieren. Es könnte sein, dass du eine Lebererkrankung hast. Das müßten wir noch genauer abklären."
"Ich trinke nie Alkohol, wenn du das meinst.“
"Nein, diese Vermutung hatte ich nie, dafür kenne ich dich zu gut“, widersprach der Arzt sofort.
"Dann denkst du, diese Serena gibt es gar nicht, auch nicht dieses seltsame Gefühl, das ich bei der Erwähnung des Namens Thissa habe? So etwas passiert doch immer nur anderen aber nie einem selbst." Es sollte ein Scherz sein, der den Ernst dieser Situation jedoch nicht lindern konnte.
Marvin nickte, wich dabei jedoch Ashtons Blick aus. "Ich vermute, du fühlst dich in deinem Leben nicht glücklich. Vor einigen Wochen hast du deine Praxis verlassen, dein vertrautes Umfeld, um deiner Tochter zuhelfen. Du fühlst dich heimatlos und…"
"Rede nicht weiter, Marvin", unterbrach Ashton ihn und stand hastig auf. Erregt lief er zum Fenster und starrte nach draußen. "Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich mir gerade das schon selbst vor Augen geführt habe? Natürlich ist das eine Erklärung, die ich von jedem Kollegen haben kann, der denselben Studiengang belegt hat wie wir? Ich würde selbst auch diese Vermutung äußern. Aber das ist es nicht." Gequält stöhnte er auf.
"Was ist es dann?"
"Deshalb bin ich zu dir gekommen", murmelte Ashton verbittert. "Wir waren nie die besten Freunde und doch hatte ich auf einmal das Gefühl, nur du könntest mir helfen."
"Wenn ich nur wüsste, wie diese Hilfe aussehen soll", murmelte Marvin und starrte wieder auf dieses seltsame Buch. "Vielleicht hat es doch mit diesem alten Etwas zu tun", fuhr er leise fort und legte seine Hand auf den kühlen Rauledereinband.
"Ach was, dieses Buch…", wehrte Ashton zornig ab. "Ich bin nicht gekommen, damit wir gemeinsam in diesem alten Schinken lesen. Meine Befürchtungen gehen in eine ganz andere Richtung. In meinem Kopf stimmt etwas nicht, und du sollst mir helfen, das herauszufinden."
Plötzlich fiel Marvin das seltsame Erlebnis wieder ein, das er selbst vor einiger Zeit am Waldrand von Devils Rock gehabt hatte. "Wo genau war eigentlich der Baum, an dem du dich… mhm…"
"Du kannst es ruhig aussprechen", herrschte Ashton ihn an. "Der Baum, an den ich mich aufhängen wollte. Kann ich dir genau sagen. Dieser Baum steht als einziger an der letzten Wegbiegung, ehe man zu dem Abzweig kommt, der direkt durch das Moor führt. Ich bin da noch nie gegangen, aber ich weiß es von Laird Ians Erzählungen her."
"Genau an dieser Stelle hatte ich einmal eine Erscheinung", murmelte Marvin. "Hast du vielleicht dort eine Frau gesehen?"
"Nach Mitternacht?"
"Gleich, um welche Uhrzeit", fuhr Marvin ärgerlich auf. "Beantworte mir einfach meine Fragen, und bitte nicht mit einer Gegenfrage. Wenn ich dir helfen soll, dann musst du schon auch mitarbeiten, sonst kann das nichts werden. Hast du dort auch eine Frau gesehen?"
"Ich kann mich nicht erinnern."
"Denk nach. Sie ist nicht sehr groß, schlank, und hat sehr lange braune Haare, die im Wind wehen, auch wenn kein Wind geht." Marvin fühlte sich nicht gerade wohl in seiner Haut, denn er hatte damals
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