Die weiße Frau von Devils Rock
Gerüche gewöhnt, denn auch auf Rochester Castle gab es noch immer Ecken, die sie nicht kannte und auch noch nie aufgesucht hatte. Doch die schöne Lady liebte gerade solche Abenteuer, seit sie akzeptiert hatte, dass das Leben mehr beinhaltete als man auf den ersten Blick sehen konnte.
"Was ist in den anderen Räumen? Warst du da schon einmal?", fragte sie.
Charlene winkte ab. "Da sieht es auch nicht anders aus als in diesem, nur sind sie nicht so trocken. Deshalb haben wir unser Gepäck hier abgestellt, damit wir es wieder benützen können, wenn wir nach Hause fahren."
Vorsichtig zog Angela eine alte Decke hoch, die über etwas gebreitet war, das wie ein Bilderrahmen aussah. "Gehört das euch?"
"Nicht dass ich wüsste. Ich hab es noch nie gesehen." Sie hielt die Öllampe direkt vor das Bild. Ein geheimer Zauber ging von dem Frauengesicht aus, das es darstellte. Sie hatte es noch nie gesehen und doch war es ihr irgendwie vertraut.
"Wer könnte das sein?" Angela überlegte, wer alles schon Dragon House bewohnt hatte.
"Keine Ahnung."
"Ich erinnere mich an die letzten Mieter, aber das ist schon sehr lange her, war noch vor meiner Zeit. Es waren wohl Siedler auf der Durchreise. Sie blieben nicht lange, zwei oder drei Monate vielleicht, und dann verschwanden sie wieder beinahe fluchtartig."
"Auf der Durchreise?" Charlene legte die Decke wieder über das Bild.
"Sie hatten die Hoffnung, Land an der Küste kaufen zu können, aber dann wurde der Mann krank. Deshalb zogen sie hier ein in der Hoffnung, er würde sich wieder erholen. Doch es war schon für alles zu spät, und ein paar Tage nach seinem Tod zog die Familie ohne ihn weiter. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist, kann mich nur noch an die Frau erinnern, die sehr resolut mit den fünf Kindern umgegangen ist. Anders hätte sie ihr schweres Schicksal vermutlich ohnehin nicht schaffen können."
"Bewundernswert", meinte Charlene und ging zur Tür. "Ich würde gern wieder nach oben gehen." Ihr Blick wanderte wieder zu dem abgedeckten Bild. In diesem Moment fiel der dicke, von Hand gewebte Stoff auf den Boden, wie von Geisterhand weggezogen.
"Hast du das gesehen?"
Angela schüttelte den Kopf. "Was meinst du?"
"Ich hatte eben das Bild der fremden Frau abgedeckt, und jetzt liegt die Decke auf dem Boden. Das verstehe ich nicht. Ich hatte sie auf beiden Seiten mit Kisten gespannt. Es ist technisch gar nicht möglich."
Nachdenklich betrachtete Angela erneut das Bild. "Es muss schon ziemlich alt sein", überlegte sie. "Das sehe ich an der brüchigen Oberfläche. Die Farbe ist teilweise sogar schon ein wenig abgeblättert, nur das Gesicht ist noch vollständig erhalten geblieben. Vielleicht sollten wir es nach oben tragen, damit es nicht weiter von der Feuchtigkeit hier unten zerstört wird."
"Nein, das geht nicht."
Überrascht zuckte Angela zusammen. "Natürlich, es muss ja nicht sein", murmelte sie. Dann nahm sie die Decke und breitete sie wieder über das Gemälde.
"Entschuldige bitte", murmelte Charlene. "Ich wollte dich nicht anschreien. Es ist mir so heraus gerutscht. Selbstverständlich können wir es mit nach oben nehmen, am besten wir bringen es in die Abstellkammer unter dem Dach."
Angela merkte, dass Charlene den Tränen nahe war. Liebevoll legte sie einen Arm um ihre Schultern. "Magst du mir nicht sagen, warum du so heftig reagiert hast?"
Charlene schüttelte den Kopf. "Ich möchte schon", gestand sie kleinlaut, "aber ich kann es nicht. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Es ist nur – ich fürchte mich vor dem Bild, vor diesem Gesicht, den Augen, die mich nicht nur ansehen sondern mich durchbohren."
"Wie bitte?"
"Lach mich nicht aus, Angela", bat Charlene. "Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich dieses Gesicht ansehe. Und selbst wenn ich es nicht ansehe spüre ich diesen durchdringenden Blick auf meinem ganzen Körper."
"Wir lassen es noch hier", entschied Angela McGregor. "Ich werde nachher mit meinem Mann darüber reden, was mit dem Gemälde geschehen soll. Vielleicht holen wir es nach Rochester Castle und hängen es in unsere Galerie. Wer weiß, womöglich ist diese Frau sogar irgendwie mit den McGregors verbunden. Was weiß man schon." Es sollte ein Scherz sein, aber der Ernst in diesen Worten war nicht zu überhören.
Heimlich atmete Charlene erleichtert auf. "Willst du auch noch den anderen Raum ansehen? Ich denke, er ist
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