Die weiße Garde
historischen Ursachen, die das alles hervorgerufen haben.« Rote Lichtflecke spielten auf seinem Gesicht und auf den Schnallen seiner Hosenträger. Karausche, vom Kognak in herrliche Schwäche versetzt, war im Einschlafen, bemühte sich aber, den Anschein höflicher Aufmerksamkeit zu wahren.
»Sie müssen aber zugeben: Bei uns in Rußland, einem zweifellos sehr rückständigen Land, ist die Revolution bereits zur Pugatschowerei entartet. Was geht eigentlich vor? In kaum zwei Jahren haben wir jegliche gesetzliche Stütze verloren, jeglichen Schutz unserer Rechte als Menschen und Bürger. Die Engländer sagen …«
»Hm, die Engländer, die sind natürlich …«, murmelte Karausche und merkte, daß eine weiche Wand ihn von Wassilissa zu trennen begann.
»… und wo gibt es das hier – ›mein Haus ist meine Burg‹ –, wenn Sie in Ihrer eigenen Wohnung hinter sieben Riegeln nicht sicher sind, daß nicht eine Bande wie die heute kommt und Ihnen Hab und Gut und womöglich noch das Leben nimmt?«
»Wir werden uns auf das Signalsystem und die Fensterläden verlassen«, antwortete Karausche nicht ganz passend mit schläfriger Stimme.
»Aber Fjodor Nikolajewitsch! Es kommt doch nicht nur auf das Signalsystem an, mein Lieber! Mit keinem Signalsystem können Sie den Verfall und die Verwesung aufhalten, die jetzt in den menschlichen Seelen nisten. Ich bitte Sie, das Signalsystem ist ein Einzelfall, was aber, wenn es defekt wird?«
»Wir werden es reparieren«, antwortete Karausche glücklich.
»Man kann doch nicht das ganze Leben auf einem Signalsystem und Revolvern aufbauen. Das meine ich nicht. Ich spreche im allgemeinen, verallgemeinere sozusagen den Einzelfall. Die Hauptsache ist doch, das Wichtigste, die Achtung vor dem Privateigentum, existiert nicht mehr. Damit ist alles aus. Damit sind wir verloren. Ich bin ein überzeugter Demokrat und stamme selbst aus dem Volk. Mein Vater war einfacher Vorarbeiter bei der Eisenbahn. All das, was Sie hier sehen, und alles, was diese Gauner mir heute genommen haben, habe ich mir durch meiner Hände Arbeit geschaffen. Glauben Sie mir, ich war nie auf der Seite des alten Regimes, im Gegenteil, ich gestehe Ihnen im Vertrauen, ich bin konstitutioneller Demokrat, aber jetzt, wo ich mit eigenen Augen gesehen habe, wo das alles hinführt, wächst in mir, das schwöre ich Ihnen, die böse Überzeugung, daß uns nur eines retten kann …« Durch den weichen Schleier, der Karausche umhüllte, drang ein Flüstern: »Die Selbstherrschaft. Jaja. Die härteste Diktatur, die man sich vorstellen kann. Die Selbstherrschaft.«
Er hört nicht auf zu quatschen, dachte der glückselige Karausche.
»Die Selbstherrschaft ist eine komplizierte Sache. Ah – hm …«, sagte er durch die Watte.
»Ach, du-du-du-du – habeas corpus, ach, du-du-du-du … Ach, du-du«, dudelte die Stimme durch die Watte, »ach, du-du-du, die irren sich, wenn sie denken, so ein Zustand kann lange dauern, ach, du-du-du, und rufen – lebe hoch. Nein, lange kann das nicht dauern, und es ist lächerlich anzunehmen, daß …«
»Die Festung Iwangorod«, unterbrach ihn plötzlich der verstorbene Kommandant in der Papacha,
»sie lebe hoch!«
»Auch Ardagan und Kars«, bestätigte Karausche im Nebel,
»sie leben hoch!«
Das dünne, ehrerbietige Lächeln Wassilissas drang aus der Ferne zu ihm.
»Sie leben hoch!«
sangen fröhlich die Stimmen in Karausches Kopf.
16
Hoch soll er leben! Hoch soll er leben!
Hoooch soll er leeben …
dröhnten die neun Bässe des berühmten Tolmaschewski-Chors.
Hoooch soll er leben …
griffen die kristallenen Diskantstimmen auf.
Hoch … Hoch … Hoch …
schraubte sich der Chor, in die Sopranstimmen zerfallend, zur Kuppel hinauf.
»Guck! Guck! Petljura …«
»Siehst du ihn, Iwan?«
»Dummkopf. Petljura ist schon auf dem Platz.«
Hunderte von Köpfen türmten sich auf der Empore, erdrückten einander, hingen von der Balustrade zwischen den alten Säulen mit den schwarzen Fresken. Menschen drängten, einander quetschend, dicht an dicht zur Balustrade, um einen Blick in die Tiefe der Kathedrale zu werfen, aber die Hunderte von Köpfen hingen wie gelbe Äpfel in dichter dreifacher Reihe. Im Abgrund wogte eine stickige tausendköpfige Welle, darüber schwebte eine glühende Wolke aus Schweiß, Dampf, Weihrauch, Ruß von Hunderten Kerzen und schweren, an Ketten hängenden Lampen. Ein dichter, an Ringen hängender graublauer Vorhang wurde knarrend zugezogen und verdeckte das
Weitere Kostenlose Bücher