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Die weiße Garde

Die weiße Garde

Titel: Die weiße Garde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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das Anzünden des Ewigen Lämpchens beschleunigt. Jelena schloß die Tür zum Eßzimmer, ging zum Nachttischchen, nahm Streichhölzer, stieg auf den Stuhl und zündete die an Ketten hängende schwere Lampe vor der alten Ikone im massiven Rahmen an. Als das Lichtchen kräftiger, wärmer wurde, erglänzte golden die Krone über dem dunklen Antlitz der Mutter Gottes, und ihre Augen blickten freundlicher. Der etwas geneigte Kopf war Jelena zugewandt. Durch die beiden Fenstervierecke schaute der weiße, stille Dezembertag herein, und in der Ecke kündete das flackernde Lichtzünglein vom Heiligen Abend. Jelena stieg vom Stuhl, warf das Tuch von den Schultern und schlug den Teppich zurück. Sie kniete nieder, machte auf dem freien Stück des glänzenden Parketts schweigend eine tiefe Verbeugung.
    Myschlajewski und hinter ihm Nikolka gingen mit geröteten Augen durchs Eßzimmer und betraten Alexejs Zimmer. Ins Eßzimmer zurückgekehrt, sagte Nikolka mit einem tiefen Atemzug zu den anderen:
    »Er stirbt …«
    »Hör zu«, begann Myschlajewski. »Ob wir vielleicht einen Priester holen? Was meinst du, Nikolka? Soll er einfach so, ohne Beichte …«
    »Wir müssen Lena fragen«, sagte Nikolka erschrocken. »Ohne sie geht es nicht. Von dem Schreck könnte ihr etwas zustoßen.«
    »Was sagt der Arzt?« fragte Karausche.
    »Was soll er sagen? Jetzt gibt’s nichts mehr zu sagen«, zischte Myschlajewski.
    Lange noch flüsterten sie aufgeregt und hörten den blassen, betrübten Lariossik seufzen. Noch einmal gingen sie zu Doktor Brodowitsch hinein. Er kam in die Diele, zündete sich eine Zigarette an und flüsterte, Alexej liege in Agonie, und einen Priester könne man natürlich holen, das sei ihm gleich, denn der Kranke sei bewußtlos, ihm könne das nicht mehr schaden.
    »Eine stumme Beichte.«
    Sie flüsterten und flüsterten, schickten aber noch nicht nach dem Priester. Dann klopften sie bei Jelena, aber sie antwortete dumpf durch die geschlossene Tür: »Laßt mich … Wartet, bis ich herauskomme.«
    Da traten sie wieder zurück.
    Kniend blickte Jelena zur Dornenkrone über dem altersdunklen Antlitz mit den klaren Augen auf, hob die Arme und flüsterte:
    »Viel Leid schickst du uns auf einmal, Mutter Gottes, unsere Beschützerin. In einem Jahr zerstörst du unsere ganze Familie. Wofür? Du hast uns die Mutter genommen, mein Mann ist fort und kommt nicht wieder – das alles verstehe ich. Ja, das verstehe ich jetzt. Aber nun willst du uns auch den Ältesten nehmen. Wofür? Wie sollen Nikolka und ich ohne ihn leben? Sieh nur, was alles um uns geschieht, sieh es dir an. Beschützerin, hast du kein Mitleid mit uns? Vielleicht sind wir keine guten Menschen, aber haben wir denn solch harte Strafe verdient?«
    Wieder verbeugte sie sich, berührte inbrünstig mit der Stirn den Boden, bekreuzigte sich, reckte die Arme hoch und flehte: »Du bist unsere einzige Hoffnung, Heilige Jungfrau. Nur du. Bitte deinen Sohn, bitte den Herrgott, daß ein Wunder geschieht.«
    Jelenas Geflüster wurde inbrünstiger, sie sagte manchmal nicht die richtigen Worte, aber sie sprach ununterbrochen, es floß aus ihr wie ein Strom. Immer öfter verbeugte sie sich und warf mit einer Kopfbewegung die Strähne aus der Stirn. Der Tag in den Fenstervierecken verschwand, und es verschwand auch der weiße Falke, die plätschernde Gavotte um drei blieb ungehört, und ganz unhörbar kam jener, zu dem Jelena über die schützende brünette Jungfrau flehte. Er erschien neben dem offenen Grab, lebendig, gütig, barfuß. Jelenas Brust weitete sich, die Wangen bedeckten sich mit Flecken, die Augen füllten sich mit Licht, mit trockenem, tränenlosem Weinen. Sie drückte Stirn und Wange an den Fußboden, dann strebte sie mit ganzer Seele dem Lichtchen zu und spürte den harten Fußboden unter den Knien nicht mehr. Das Lichtchen wurde größer, das dunkle Antlitz unter der Dornenkrone belebte sich deutlich, die klaren Augen entlockten Jelena neue und immer neue Worte. Hinter Fenstern und Türen herrschte absolute Stille, der Tag erlosch schrecklich schnell, und noch einmal hatte sie Gesichte – das gläserne Licht der Himmelskuppel, nie gesehene rotgelbe Sandhügel und Ölbäume; dunkle jahrhundertealte Stille und Kälte hauchte ihr die Kathedrale ins Herz.
    »Mutter, Beschützerin«, murmelte Jelena im Licht. »Bitte ihn! Dort steht er. Was kostet es dich schon! Hab Erbarmen mit uns! Erbarmen! Es naht dein Tag, dein Fest. Vielleicht kann er noch Gutes tun. Ich werde dir

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