Die weiße Hexe
gehen.
Ich hörte das Rascheln von Papieren, und wenig später hielt ich einen deutschen Reisepaß in der Hand, ausgestellt vom Kreisverwaltungsreferat München. Er lautete auf Dr. Julia Schäfer.
Auf dem Paßfoto war eine Frau abgebildet, die mit meinem Gegenüber nur entfernt Ähnlichkeit hatte.
„Das war ich mal“, sagte sie. „Ich habe Ihnen das nicht gezeigt, damit Sie mich nicht für verrückt halten. Es soll Ihnen nur den Weg verdeutlichen, von wo ich gekommen bin.“
„Ich halte Sie nicht für verrückt, Julia.“
„Nicht Julia. Hier heiße ich Oluwafemi. Das sind Worte aus der Sprache der Yoruba. Sie bedeuten „Gott liebt mich“. Denn das ist es, was ich lernen mußte: mich selbst zu lieben. Damit Gott mich lieben kann.“
„Sie sind Ärztin?“ Ich dachte an mein Bein und griff instinktiv an den grünen Verband. Der Knöchel tat nicht mehr weh.
„Wegen der Blätter an Ihrem Bein? Ach, das kann jeder, der sich mit Naturmedizin auskennt. Da ist auch kein Zauber dabei.“ Sie wickelte behutsam mein weißes Bein aus. „Versuchen Sie aufzustehen. Wenn es kein Bruch ist, was ich eigentlich annehme, müßte der Knöchel wieder in Ordnung sein.“
Vorsichtig erhob ich mich.
„Treten Sie auf“, ermunterte sie mich.
Die Schmerzen waren tatsächlich verschwunden. „Das ist wundervoll. Ich muß nämlich dringend mal wohin“, sagte ich.
„Ja, natürlich.“ Sie machte keine Anstalten, mir den Weg zu weisen.
„Ahm, wo ... wo kann ich ...?“
„Ich zeige es Ihnen.“ Sie nahm eine der Fackeln und ging voraus zur „Toilette“, einem hinter hohen Farn versteckten Loch im Boden.
Irgendwo in den Büschen raschelte es. Ich beeilte mich zurückzukommen zu dem kleinen Platz in der Mitte der vier, fünf Hütten.
Drei oder vier Dorfbewohnerinnen saßen um ein offenes Feuer herum, unterhielten sich und lachten. Ihr Alter war aufgrund der Lichtverhältnisse schwer zu schätzen. Oluwafemi bot mir einen Platz neben sich an. Neben ihr lag eine Schachtel Marlboro-Zigaretten; sie rauchte.
„Ihr Mann hat sie mir geschenkt“, erklärte sie. John rauchte eigentlich selten. Ich wußte nicht mal, daß er überhaupt Marlboros dabeigehabt hatte.
Kaum hatte ich mich gesetzt, da spürte ich, daß sich hinter mir etwas bewegte. Ich drehte mich um und sah eine der weißgepuderten Frauen, die vielleicht noch drei Schritte von mir entfernt war. Sie bewegte sich mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Ich sprang erschrocken auf.
„Bitte, setzen Sie sich. Funke tut Ihnen nichts. Sie ist harmlos.“
„Touch hair, ma'am“, sagte die weiße Schwarze, die Funke hieß.
Dieses Spiel kannte ich schon von den Kindern in Moses' Haus. Sie wollten mein weiches, rotblondes Haar berühren. Aber Funke war kein Kind mehr, sondern eine dicke, nackte Frau. Die allerdings im Gesicht den unschuldigen Blick einer Dreijährigen hatte. Behutsam griff sie nach meinen Haaren, unablässig murmelnd: „How go de
go?“ , was soviel wie „How areyou?“ , also: „Wie geht's?“
bedeutete.
Mochte ich in bezug auf Julia-Oluwafemi vielleicht etwas vorschnell geglaubt haben, es mit einer Irren zu tun zu haben, so war ich mir bei Funke sicher. Warum lebten diese Frauen hier im Urwald?
Waren sie verstoßen worden? Oder hatte sich Julia-Oluwa-femi zu ihrer Therapeutin gemacht?
Sie begann zu erzählen. „Ich war Psychologin. Na, jedenfalls, ich dachte, ich wäre es. Aber ich war nur ein Werkzeug. Alles in mir wehrte sich gegen dieses Leben. Ich war damals verheiratet. Mein Mann bekam das Angebot, als Leiter des Goethe-Instituts nach Lagos zu wechseln. Das hat mir das Leben gerettet. Denn ich war drauf und dran, selbst verrückt zu werden. Ich konnte ganz deutlich meine eigenen Symptome erkennen. Aber das Schlimmste war: Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben. Ich wollte helfen, ich wollte Menschen heilen. Aber das war nicht das, was man von mir erwartete.“
Julia-Oluwafemi, die Wanderin zwischen den Kulturen, die dem anbrechenden High-Tech-Zeitalter entflohen war, um unter Nackten zu leben, blickte sinnend ins Feuer. „Nehmen Sie Funke. Sie sehen den Körper einer Frau von Ende Fünfzig. Aber in ihren Augen entdecken Sie ein dreijähriges Kind. Bringen Sie Funke in eine deutsche Psychiatrie. Die Diagnose ist schnell gestellt: Schizophrenie. Ich sage: Sie sieht nur aus wie jemand anderes, eben wie eine alternde Frau. Aber sie ist ein Kind. Ich kenne Funkes Krankengeschichte nicht. Niemand konnte sie mir erzählen. Sie wurde als
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