Die weiße Hexe
Wahnsinnige aus ihrem Dorf vertrieben. Aber was macht es schon, daß ich ihre Geschichte nie erfahren werde? Ich nehme sie einfach an, wie sie ist - ein Kind, das gerade verständlich sprechen kann. Und Funke ist glücklich. Ohne Psychopharmaka habe ich also einen Menschen therapiert.“
„Sie haben ein Kind therapiert. Ein Kind in dem alternden Körper einer Frau.“
„Richtig. Jetzt haben Sie es verstanden. Sie sieht nur aus wie jemand, der sie nicht ist.“
Sie stand auf, warf die Zigarette ins Feuer und begann ein paar leichte Schritte ums Feuer zu machen, wobei die hellen Flammen ihren Schatten verzerrt auf den Boden warfen. Nach und nach erhoben sich die anderen Frauen, und selbst Funke hatte meine Haare genug befummelt, um sich den anderen anzuschließen.
Ohne, daß irgendeine Trommel geschlagen wurde, tanzten die nackten Frauen, sich an den Händen haltend, ums Feuer. Als hörten sie ihre eigene Melodie und ihren Rhythmus.
Ich sah ihnen zu. Sechs Schatten vor einem Feuer. Sechs schwarze Schatten. Es war nicht mehr ohne weiteres auszumachen, welcher davon Dr. Julia Schäfer aus München war. „Sie sieht nur aus wie jemand, der sie nicht ist“, hatte sie gesagt. Mit Sicherheit galt das auch für sie selbst. Vielleicht darum die braune Erde auf ihrem Körper. Ich habe mich nicht getraut, sie das zu fragen. Die Balance des Lebens halten - ein schmaler Grat zwischen Wahn und Wirklichkeit.
Nach einer Weile öffnete sich die Kette der Tänzerinnen, und sie faßten mich an den Händen. Ich war eine von ihnen. In einem Kreis von verrückten Frauen im Busch.
„Es war kein Zufall, daß mein Mann nach Lagos versetzt wurde. Und es war auch kein Zufall, daß du dir deinen Knöchel hier in der Nähe unseres Dorfes verstaucht hast“, sagte Julia-Oluwafemi, als wir später wieder in ihrer kargen Hütte saßen. „Wir straucheln durchs Leben, meistens unbewußt, aber irgendwann kommen wir wieder auf die Beine. Ich sehe den Afrikanerinnen gern zu, wenn sie ihre schweren Körbe auf dem Kopf tragen. Sie verlieren nie das Gleichgewicht. Sie bleiben immer in der Balance. Das ist es, was ich hier gelernt habe: meine innere Balance zu finden.“
„Was wurde aus deiner Ehe?“ Ich dachte, daß ihr Mann als Leiter des Goethe-Instituts, dem Aushängeschild der deutschen Kultur im Ausland, unmöglich mit einer nackten Frau im Urwald in Verbindung gebracht werden wollte. Aber Oluwafemi blieb mir die Antwort schuldig. Als ich ein Jahr später zu einem Empfang in der deutschen Botschaft auf Victoria Island in Lagos war, hieß es, Dr.
Schäfer sei seit einem Jahr im Ruhestand. Man fragte mich, ob ich ihn kenne. Ich sagte, ich hätte seine Frau kennengelernt. Man erwiderte überrascht, daß man gar nicht gewußt habe, daß Doktor Schäfer verheiratet gewesen sei.
In dieser Nacht schlief ich schlecht, träumte wirres Zeug. Am nächsten Morgen fragte mich Julia-Oluwafemi beim Abschiedsfrühstück am Feuer: „Du hast geträumt, daß dein Vater schwer krank ist, Ilona, erinnerst du dich?“
„Woher weißt du das?“
„Du hast geredet. Beinahe pausenlos. Das war bei mir am Anfang übrigens auch so.“
Ja, langsam kam die Erinnerung wieder, ich hatte tatsächlich von Papa geträumt. Ein entsetzlicher Traum, wohl unter Einwirkung der vielen Erlebnisse. Papa war in diesem Traum, so wie ich etwa zehn Tage zuvor in der Realität, über die Jauchegräben nahe von Moses'
Haus balanciert. Er hatte sich noch ungeschickter angestellt und war kopfüber hineingefallen. Man hatte ihn mit dem Krankenwagen abgeholt, weil er keine Luft mehr bekam. Aber ich hatte kein Auto und konnte der Ambulanz nicht folgen. Ich rannte hinterher und verstauchte mir den Fuß. Da kamen John und eine bunt angemalte, dickliche Schwarze in einem Geländewagen angefahren. Sie hielten und ließen mich hinten einsteigen. Aber statt zum Krankenhaus brachten sie mich zum Friedhof. John sagte: „Moses ist gestorben.“
Als ich meinen Traum erzählt hatte, sagte Oluwafemi schlicht: „Du solltest in Deutschland anrufen, Ilona.“
Funke, mit dem kindlichen Gesicht, stürzte außer Atem ans Feuer, ruderte mit den Armen und krächzte: „Käkeh! Käkeh!“
„Sie sagt, daß ein Auto kommt“, übersetzte Oluwafemi. Sie erhob sich und ging zu ihrer nahen Hütte. Als sie wieder herauskam, hatte sie sich zu meiner Verwunderung einen Wrapper übergestreift. Sie lächelte scheu, als sie sagte: „Wenn dein Traum wahr ist, kommt gerade dein Mann, und er befindet sich in
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