Die weiße Hexe
Privatmaschine durchs Land. Aufwelche Seite gehörte ich? Nein, schrie meine innere Stimme, nicht zu diesem Mann. Seit ich von John losgekommen war, hatte ich etwas wiedergefunden, das ich schmerzhaft vermißt hatte, als ich das letzte Mal aus Lagos weggeflogen war - meine innere Balance.
„Hat Mary ihr Kind schon bekommen?“ fragte ich.
„Mein Sohn ist zu Hause mit ihr.“ Er fixierte mich. „Und wo lebst du?“
Ich erklärte mit fester Stimme den wahren Grund meines Besuchs.
„Und du bist nie zu mir gekommen?“ fragte er überrascht.
„Nein, John, unser gemeinsames Leben ist beendet. Ich will die Scheidung.“
„Du hast bis jetzt nur deshalb keinen Druck wegen der Scheidung gemacht, weil du die Aufenthaltsgenehmigung brauchst, stimmt's?“
Und dann hatte er eine plötzliche Eingebung. „Ich verlasse Mary.
Noch heute. Laß mich bei dir wohnen. Du hast bestimmt ein großes Haus, das die Firma zahlt.“
Ich sollte die Zeit zurückdrehen? John wieder durchfüttern? Und seine hinzugekommenen Frauen und Kinder obendrein? Statt dessen schlug ich ihm einen Job in der neuen Produktionsstätte vor.
Für Sekunden verwandelte John sich in den stolzen Mann, der er früher gewesen war. „Ich soll in einer Fabrik schuften, und du sitzt in einem feinen Haus?“
Wie hätte ich jetzt noch sagen können: John, übrigens, du schuldest Vater noch eine Menge Geld aus dem Autohandel. Es war sinnlos weiterzureden. Ich drehte mich um und ging zu Femis Wagen zurück. „Mach's gut, John.“
Ich stieg hinten ein, und Femi fuhr los. Ich wollte mich eigentlich nicht umsehen - und tat es trotzdem. Da stand mein Mann, auf einem verwahrlosten Werkstatthof. Er hob die rechte Hand bis auf Brusthöhe, als wollte er winken, doch ihm schien die Kraft dazu zu fehlen.
Victor verwendete sehr viel Zeit darauf, sich ein neues Leben in Afrika aufzubauen. Dafür wollte er möglichst viel aus seinem alten, britischen Leben um sich haben. Vor allem seine sieben Polopferde
- in der Fachsprache Ponys genannt - und die drei Hunde. Immer wieder flog er für einige Tage nach London, um alles für den Transfer der viele zehntausend Mark teuren Tiere vorzubereiten. Ich sollte ihn begleiten. Doch ich hatte mit Strengfurt noch nicht abgeschlossen. Mit Akribie bereitete ich ein Dossier vor, um das mich inzwischen sogar Strengfurt-Chef Bernhard in einem Telefonat gebeten hatte. Mich hatte der Ehrgeiz gepackt: War es vermessen, davon zu träumen, Nickels Platz einzunehmen? Ich rechnete mir gute Chancen aus. Ich wußte alle in Lagos auf meiner Seite. Alle -
bis auf Nickel und Okoro.
Mit der nigerianischen Alltagsrealität kam Victor noch weniger zurecht als ich. Einer unserer Ausflüge in seinem klimatisierten Jaguar mißlang völlig. Es begann wieder mit einer Polizeisperre.
Am Straßenrand hockten Menschen, von Peitschen schwingenden Polizisten bewacht.
„Hüpf“, brüllte ein Polizist. Die Angeschrienen hüpften wie Frösche.
„Was haben diese Männer gemacht?“ fragte Victor seinen Fahrer.
„Sie sind wahrscheinlich über die Straße gelaufen, ohne auf den Verkehr zu achten, Sir. Die Polizei will ihnen beibringen, wie man sich im Verkehr benimmt.“
„Und wie lange geht das?“
„Bis die Frösche zusammenbrechen, Sir.“
„Ist das nicht schrecklich, Ilona? Wie können Menschen so grausam zueinander sein? So voller Verachtung.“
Seine Laune war verdorben. Sie besserte sich auch nicht, als wir am feinsandigen Bar Beach auf Victoria Island angekommen waren.
Wir saßen unter Palmwedeldächern und tranken leckere alko-holfreie Drinks. Ein kleines Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt, verkaufte geschälte Karotten, die fein säuberlich auf einem blankpolierten Tablett lagen. Wir kauften ihr ein paar davon ab. Die Kleine strahlte und ging zu unseren Nachbarn, Franzosen.
„Non, va t'en!“ schnauzte der Mann, was das Mädchen natürlich nicht als „Nein, geh weg“ verstand. Sie lächelte und hoffte, ihre Möhren für ein paar Pfennige loszuwerden. Der Franzose griff wortlos in den Sand und schmiß ihn der Kleinen auf die frisch gewaschenen Karotten. Das Mädchen blieb wie erstarrt stehen, ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen. Leise weinend rannte sie davon. Sauberes Wasser zum Abspülen ihrer Möhren gab es für sie nirgendwo am ganzen Strand.
Victor zögerte einen Augenblick. Dann stand er auf. Wollte er den Franzosen zur Rede stellen? Nein, er kaufte einem fliegenden Händler eine Flasche Mineralwasser ab und lief dem
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