Die weiße Hexe
ihm eine Antwort zu geben: In meiner Kehle saß ein dicker Kloß, der mir das Sprechen unmöglich machte. Ich küßte Victor lange, bis er merkte, daß mir Tränen übers Gesicht liefen.
„Warum weinst du?“ fragte er und küßte meine Tränen fort.
„Ich weiß nicht. Ich kann nichts dafür.“ Ich kam mir fürchterlich bescheuert vor. Man weint doch nicht wegen eines Heiratsantrags
•.. Außer, man weiß nicht, was man antworten soll. Und ich wußte es wirklich nicht. Ich kannte so wenig von Victors Leben. Und das bißchen Einblick, das ich bisher bekommen hatte, zeigte mir das Leben eines Mannes, der sehr verwöhnt war. Wollte er in Lagos leben - er bekam das größte Haus. Wollte er Ponys für Zigtausende von Mark - er bekam sie. Jetzt wollte er mich. Ich hatte schon einmal einen Mann aus einer völlig anderen Kultur geheiratet. Ich war ein gebranntes Kind.
„Ich liebe dich.“ Er sagte es ganz leise, direkt in mein Ohr. „Du mußt mir jetzt nicht antworten. Aber wenn du die Antwort weißt, dann ...“
„Ich weiß die Antwort, Victor“, unterbrach ich, „aber ich will sicher sein, daß es die richtige Antwort ist.“
DER EINBRUCH
Im Hotel in Kano erwartete uns eine Nachricht von Victors Vater.
„Es wird etwas Dringendes sein“, meinte Victor und rief seinen Vater an. „Ich muß sofort nach Warri“, berichtete er, als er zurückkam.
William rief seinen Kronprinzen zur Arbeit, zu den Ölförderanlagen ins Nigerdelta. Ein 1000 Kilometer langer Flug, der sich quer durch das ganze Land zieht. Welch ein Gegensatz - von der kahlen Wüste in den tropisch grünen Regenwald. Es war für mich die erste direkte Begegnung mit der Quelle von Victors unglaublichem Reichtum -
und mit dessen Schattenseite. Die Familien der Ölarbeiter lebten in furchtbarer Armut, verdreckte Dörfer ohne Hoffnung. Die Ölleitungen wurden von den Menschen angebohrt, um sich gratis mit dem kostbaren Öl zu versorgen. Doch irgendwas war dabei schiefgegangen, es war zu einer Explosion gekommen, die etwa zehn Menschen das Leben gekostet hatte.
Ein Taxi hatte uns in ein trauriges Dorf mit endlosen Wellblechsiedlungen mitten im undurchdringlichen Grün des Regenwaldes gebracht. Polizeiabsperrungen hinderten uns daran, an den Unglücksort zu gelangen. Wir fuhren zu einem heruntergekommenen weißen Gebäude, dem örtlichen Polizeiposten, vor dem ein mit allerlei Chromzierat aufgemotzter BMW stand, den zwei Wächter im Auge behielten.
„Oh, Onkel Sunny ist da“, sagte Victor. Der Mann mit dem Leoparden-Stock!
Die Förderung des Öls war von der Regierung zwar an ausländische Konzerne vergeben worden, aber die Chiefs, denen das Land gehört hatte, waren die Ansprechpartner des Volkes und deren Repräsentanten, wenn es Probleme gab. Der Unfall hatte die dramatische Unterversorgung mit Ärzten und Krankenhäusern deutlich gemacht. Eine bessere Infrastruktur hätte wohl manches Leben retten können. Victor erkannte im Gespräch mit Sunny diesen Punkt natürlich schnell. Sunny stützte seinen massigen Leib vornübergebeugt auf seinen schwarzen Stock, dessen Leopardenknauf uns anfunkelte. Trotz der drückenden Schwüle trug er über der linken Hand einen hellen Lederhandschuh. Der etwa fünfzig Jahre alte Mann war wieder ganz in Weiß gekleidet, aber seinen Kopf zierte diesmal eine hohe runde Kappe aus Leopardenfell.
Während Victor sich von Polizisten und einigen Vertretern der Dorfbewohner die Lage schildern ließ, konnte ich den Blick nicht von Sunny wenden. Er wirkte vollkommen ruhig, aber seine leicht hervorquellenden Augen waren die ganze Zeit in Bewegung. Und obwohl er kein Wort sprach, schien er derjenige zu sein, dem alle Anwesenden ihre Probleme schilderten. Sogar Victor wandte sich immer wieder an den schweigenden Onkel, wenn er sprach.
Um die aufgeregten Dorfbewohner zu beruhigen, schlug Victor den Bau eines Krankenhauses vor. Er wollte die Geräte sofort nach seiner Rückkehr von Lagos aus in London ordern. Bis ein richtiges Krankenhaus fertig wäre, wollte er Zelte aufstellen lassen. Die Leute aus dem Dorf waren begeistert. Soweit ich verstand, schlug jemand sogar einen Standort für die Interimsklinik vor. Es sah so aus, als ob alle bereits mit diesem minimalen Vorschlag zufrieden waren und damit das Elend des Ortes erträglicher wurde.
Unvermittelt erhob sich Sunny, und alle Anwesenden schwiegen sofort. „Ich denke, es ist alles gesagt“, meinte er in Pidgin-Englisch und marschierte würdevoll zum Ausgang der
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