Die weiße Mafia: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen (German Edition)
Werbung. Gegen zu hohen Blutdruck, gegen Demenz, gegen Krebs, gegen Herzinfarkt wurde Schutz durch Vitamine versprochen. Die berühmte »Vorbeugung« gegen zwei Drittel der gravierendsten medizinischen Probleme unserer Zivilisation. Alle Achtung!
Mein Kameramann dokumentiert zur Sicherheit die blumigen Versprechungen. Dann schreibe ich eine E-Mail an den Geschäftsführer von lifeline . Ich erkläre, dass mir die Berichterstattung auf lifeline nicht gerade objektiv erscheine. Nur Jubelberichte. Kein Hinweis auf negative Studienergebnisse. Die Metaanalyse der Cochrane-Gruppe aus Dänemark war damals schon seit über einem Jahr veröffentlicht. Und ich bot den Betreibern von lifeline an, in meiner Doku ihre Sichtweise zu erläutern. Ich war gespannt, wie lifeline antworten würde.
Nationale Verzehrstudie II: Vitaminversorgung
Es gab aber auch Drehpartner in der vitaminkritischen TV-Doku, bei denen ich keine juristische Verfolgung fürchten musste. Zum Beispiel Prof. Gerhard Rechkemmer vom Max-Rubner-Forschungsinstitut für Ernährung. Die Mitarbeiter von Prof. Rechkemmer hatten kurz zuvor ihre Nationale Verzehrstudie II abgeschlossen. 20 000 Personen zwischen 14 und 80 Jahren waren dazu befragt worden, was sie in den letzten 24 Stunden gegessen hatten. Außerdem mussten die Teilnehmer zwei mal vier Tage ihre Nahrungsmittel genau abwiegen und protokollieren, was sie zu sich nahmen, und Auskunft über ihre Ernährungsgewohnheiten der letzten vier Wochen geben. Die Daten ergaben einen Überblick über die aktuellen Ernährungsgewohnheiten der Deutschen. Mit Bezug auf Vitamine stellte sich allgemein eine gute Versorgung heraus. Nur Folsäure (ein Mangel kann zu Problemen in der Schwangerschaft führen) und Vitamin D (Osteoporoserisiko) lagen deutlich unter den empfohlenen – allerdings mit einer großzügigen Pufferzone ausgestatteten – Referenzwerten. Prof. Rechkemmer gab auch Entwarnung beim negativen Mythos von den angeblich nahezu vitaminfreien Produkten aus der industriellen Landwirtschaft. Die Lebensmittel vom Feld enthalten heute nicht weniger Vitamine als früher. Das kann man in Messungen eindeutig zeigen, so der Ernährungswissenschaftler. Bei einer nur einigermaßen abwechslungsreichen Ernährung sind künstliche Zusatzvitamine überflüssig, wenn nicht gar – wie die dänische Studie gezeigt hatte – schädlich. Prof. Rechkemmer sollte bei den Ereignissen, die auf die Ausstrahlung der Vitaminfalle folgten, noch eine wichtige Rolle spielen.
Zurück zu lifeline . Der Geschäftsführer des Internet-Gesundheitsportals antwortete mir, wenige Tage nachdem ich ihm meine Mail mit den kritischen Fragen zu den Jubelberichten über Vitamine geschickt hatte. Zu den wichtigsten Zielen von lifeline gehörten die Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit. Aber bei der schnellen wissenschaftlichen Entwicklung könne es sein, dass man nicht immer ganz aktuell sei. Er habe das Kapitel Vitamine prüfen und überarbeiten lassen.
Unabhängigkeit als höchstes Ziel? Wenn man sich durch das Impressum hindurch einige Klicks tiefer bewegt, liest man, dass lifeline eine »Kommunikationsagentur für Medizin und Pharmazie« ist. Auch die Kunden sind dort aufgelistet. Es handelt sich um so etwas wie ein Who is Who der pharmazeutischen Industrie.
Als ich mir das aktualisierte Informationsangebot zu den Vitaminen anschaue, traue ich im ersten Moment meinen Augen nicht: Sie haben tatsächlich die ganzen blumigen und unbelegten bzw. zumeist längst widerlegten Versprechungen zu den positiven Wirkungen der Vitaminpräparate aus dem Programm genommen: Vitamine schützen nicht mehr vor Herzinfarkt, Bluthochdruck, Demenz oder Krebs. Zum Glück hatte ich die alte Version der Website bereits auf Kameraband gesichert. Ein kompletter Rückzieher der über Jahre gefahrenen Pro-Vitamin-Berichterstattung: Ein klareres Eingeständnis der Haltlosigkeit der unters Volk gestreuten Berichte konnte es nicht geben. Es kommt nicht so oft vor, dass man mit einer kritischen Berichterstattung etwas bewegt. Vor der Kamera Stellung dazu nehmen wollte lifeline nicht. Warum überrascht uns das nicht?
Der publizistische Gegenschlag der Lobby
Was sich nur wenige Wochen nach der Ausstrahlung meiner Vitaminfalle PR-technisch ereignete, stellt alle meine Erlebnisse bei der Recherche zum Thema Vitamine in puncto Dreistigkeit noch einmal in den Schatten. Ich erhielt einen Brief von Professor Biesalski. Er beklagte sich über meine tendenziöse Berichterstattung und
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