Die weiße Mafia: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen (German Edition)
Kontaktaufnahme meinerseits reagierte er überhaupt nicht mehr. Und so ist der Schritt vom anonymen Informanten zum öffentlichen Ankläger weit. Nur ganz selten haben kritische Gesprächspartner nach einem »Das muss ich mir erst mal in Ruhe überlegen« dann auch tatsächlich den Schritt vor die Kamera gewagt. Das Gegenteil war häufig der Fall. Oft ist es vorgekommen, dass ein potenzieller Kronzeuge, der sich im Vorgespräch in einem Anfall von Rechtschaffenheit fest bereiterklärt hatte mitzumachen, kurz vor dem Drehtermin abgesprungen ist.
Nur zu verständlich. Wenn ich als Arzt erkläre, dass meine Zunft systematisch unsinnige Behandlungen vornimmt, dass sie sich weigert, die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien zur Kenntnis zu nehmen, weil das schlecht ist fürs Geschäft, dann ist das für meine medizinische Laufbahn definitiv gefährlich. Ich beschädige damit den Ruf meiner Fachdisziplin. Meine Fachdisziplin ist aber so etwas wie meine Partei, in der ich auch »politisch« Karriere machen kann. Präsident einer deutschen medizinischen Fachgesellschaft: Das ist fast so gut wie medizinischer Betreuer der Basketball-Nationalmannschaft in den USA. Und selbst wenn ich dazu keine Ambitionen habe: Mir in meiner Partei Feinde zu machen wird auch meiner eigentlichen medizinischen Karriere nicht förderlich sein.
Das ist einer der Gründe für die ungeheure Trägheit, mit der unser Medizinsystem auf wissenschaftliche Erkenntnisse reagiert: die Macht der eminenzbasierten Fachgesellschaften. Fortschritt bedeutet eben mit schöner Regelmäßigkeit die Entdeckung, dass das, was man bisher zu wissen glaubte, falsch ist. Die entsprechenden Konsequenzen – Eingeständnisse von Irrtümern etwa – sind den Eminenzen der Fachgesellschaften aber nicht zuzumuten. Nach ihrem Selbstverständnis sind sie immer noch kleine »Götter in Weiß«. Und so einer kann nicht sagen: »Hm, da war ich wohl auf dem falschen Dampfer.« Eitelkeit ist neben der Habgier die wichtigste Ursache für die systematische Überbehandlung in unserem Gesundheitssystem.
Die alten Hasen packen aus
In der Orthopädie waren es vor allem zwei gestandene, unabhängige und hochdekorierte Chirurgen, die vor meiner Kamera mehr als einmal Tacheles zum Thema Überbehandlung in ihrem Fachgebiet redeten. Beide genießen internationales Ansehen, haben sich aber nie im Filz der nationalen Fachgesellschaften verstrickt. Außerdem sind sie beide in einer beruflichen Position und in einem Alter, in dem sie keine Nachteile für ihre Karriere mehr befürchten müssen, wenn sie Kritik an ihrer Zunft üben. Vielleicht ist ihre öffentliche Anklage der Überbehandlung in ihrer Zunft auch eine Form der Abbitte, die sie leisten, weil auch sie in jüngeren Jahren chirurgisch zu »offensiv« mit einigen ihrer Patienten umgegangen sind. So wie Prof. Jürgen Harms, der jahrzehntelang die Entwicklung der Wirbelsäulenchirurgie mitprägte. Lange Jahre war er Chef der Wirbelsäulenklinik in Karlsberg-Langensteinbach. Auf meine Frage, ob es Übertherapie in der Wirbelsäulenchirurgie gebe, antwortet er klar, aber auch differenziert:
»Für die Bandscheibenoperationen kann ich das klar bejahen. Hier bin ich überzeugt, dass man sich durch eine konsequente konservative Therapie 40 bis 50 Prozent der Bandscheibenoperationen sparen könnte. Dies erfordert aber – und das ist ganz wichtig – Akzeptanz und Geduld bei Patient und Arzt.«
Rückenschmerzen verschwinden in der überwiegenden Zahl der Fälle ganz von allein. Bandscheiben, die auf Nerven drücken, ziehen sich – bleibt der Körper in Bewegung – meist von allein in die richtige Position zurück. Zur Not hilft ein Schmerzmittel, die Verspannung zu lösen. Der Verlauf dieser Volkskrankheit einer sitzenden Nation ähnelt einer Glockenkurve. Die Schmerzen erreichen einen Höhepunkt, an dem der Patient am liebsten sofort Entlastung durch eine Operation hätte. Dabei ist zu diesem Zeitpunkt das Abklingen der Schmerzen oft schon abzusehen. Das wissen die orthopädischen Chirurgen. Im Sinne des Patienten (dessen stützender Bänderapparat durch die Operation geschwächt wird) und im Sinne des Gesundheitssystems (dem erhebliche Kosten erspart würden) wäre es von Vorteil, wenn der Orthopäde zunächst von der Bandscheibenoperation abriete. Doch im Sinne des eigenen wirtschaftlichen Interesses und des wirtschaftlichen Interesses der Klinik ist es vorteilhafter, eine Kernspintomografie anzuordnen, bei der dann sicher die eine oder
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