Die weiße Mafia: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen (German Edition)
mache ich auch weiter so. Ein medizinischer Laie hat sich gefälligst nicht anzumaßen, er könne auf meinem Fachgebiet irgendeine relevante oder gar zutreffende Einschätzung liefern.« Und ich weiß nicht recht, ob mir diese Mischung aus Ignoranz und Arroganz nicht sogar die sympathischere Variante ist, wenn ich an die einzige Alternative dazu denke. Denn die würde sich etwa so anhören: »Mist, wieder einer, der es ahnt: 50 Prozent der orthopädischen Operationen sind bestenfalls überflüssig, in vielen Fällen bewirken sie sogar eine Verschlimmerung der Situation. Reine Geldschneiderei. Langsam schwimmen uns echt die Felle davon. Jetzt muss ich meine ganze medizinische Autorität aufbieten. Mal sehen, ob wir den nicht doch noch auf den Tisch bekommen.« Es tut mir leid, aber ich kann keine weitere Erklärung für die Haltung des Orthopäden finden: Entweder ist er fachlich – vorsichtig ausgedrückt – nicht auf der Höhe und hat von diesen Selbstheilungskräften noch nichts gehört. Oder – und leider scheint mir diese Interpretation eher zuzutreffen – er ist ein zynischer, geldgieriger »Beutelschneider«.
Die letzte Studie, in der eine solche Operation weitgehend als Hightechschamanismus enttarnt wurde, ist noch nicht alt. Aber auch nicht so neu, dass Orthopäden sich damit herausreden könnten, die Untersuchung sei noch nicht bekannt. Im Jahr 2010 veröffentlichte Dr. Richard Forbell von der Uniklinik in Lund, Schweden, die Ergebnisse seiner Studie im New England Journal , einem der drei bedeutendsten medizinischen Fachjournale. 42 Genau wie der Orthopäde Dr. Bruce Moseley, der das bis dahin unumstrittene Knorpelglätten im Kniegelenk entzaubert hatte, widmete sich auch Dr. Richard Forbell einer häufig durchgeführten Standardtherapie. Einer Operation, die auf den ersten Blick mit einem überzeugenden Konzept aufwartet: Reißt ein Band, so muss es geflickt werden. Die Bänder sind ja nicht zum Spaß da. Sie haben eine Aufgabe!
Kreuzbandplastik: meistens überflüssig
Es geht um den Riss des vorderen Kreuzbandes im Knie. 121 junge, aktive Erwachsene mit Kreuzbandriss nahmen an der Studie teil. Die Teilnehmer wurden randomisiert, das heißt zufällig einer der beiden Behandlungsgruppen zugeteilt. Die erste Gruppe bekam Physiotherapie und wurde nach dem Abschwellen des Knies direkt operiert. Für die Patienten in der zweiten Gruppe gab es zunächst nur Physiotherapie. Sie hatten allerdings die Option, das gerissene Kreuzband später in einer Operation ersetzen zu lassen, wenn sie mit dem Ergebnis der Physiotherapie nicht zufrieden waren. 23 Teilnehmer machten davon Gebrauch. 36 Kniepatienten aus dieser zweiten Gruppe beließen es bei der Physiotherapie. Also kamen 60 Prozent in der »defensiven« Gruppe vollkommen ohne Operation aus. Als Dr. Forbell die beiden Gruppen nach zwei Jahren hinsichtlich verschiedener Kriterien miteinander verglich (Stabilität des Gelenks, Schmerzen, Selbsteinschätzung des Ergebnisses durch die Patienten), schnitten beide Gruppen praktisch identisch ab. Die Gruppe, in der nicht sofort operiert wurde, sogar ein bisschen besser.
Aber was passiert da eigentlich im Körper? Am Fußgelenk, im Kniegelenk? Wie kann der Körper gerissene Bänder wiederherstellen? Die Antwort lautet, dass diese Scharnierfunktionen unseres Muskel- und Skelettapparates mit einer Sicherheitsreserve aufgebaut sind. Benachbarte Bänder können Funktionen teilweise übernehmen, Muskeln können Kräfte umleiten, Narbengewebe bildet sich und stabilisiert das Gelenk. Etwa 100 000 Risse des vorderen Kreuzbandes gibt es in Deutschland jedes Jahr. Statistisch reißt alle 6,5 Minuten eines. Es mag dabei Fälle geben, in denen eine Operation Sinn macht. Aber spätestens die Studie des schwedischen Orthopäden Dr. Richard Forbell hat gezeigt: In weit mehr als der Hälfte aller Fälle ist dieser Eingriff überflüssig.
Wer steht dazu vor der Kamera?
In vielen Beiträgen für unser Wissenschaftsmagazin Odysso im SWR TV habe ich mich mit überflüssiger Orthopädie beschäftigt. Schwierig war es immer, Ärzte zu finden, die ihre kritischen Einschätzungen vor der Kamera öffentlich äußerten. Am Telefon höre ich regelmäßig harte Statements zum Thema Übertherapie. Sie erinnern sich an den Orthopäden aus dem 1. Kapitel: »Sinnlose Operationen? Aber das machen doch alle.« Er hat nach unserem Gespräch offensichtlich darüber nachgedacht, dass er hier etwas zu viel preisgegeben hat. Auf spätere Versuche der
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