Die Weisse Massai
vor, morgen hinter dem Trakt spazierenzugehen, so bleibe mir dieser Anblick erspart. Tatsächlich befindet sich dort eine Wiese mit schönen Bäumen, und wir dürfen täglich bis zu einer halben Stunde draußen bleiben. Ich laufe mit Napirai im Grünen umher und singe laut. Es gefällt ihr, denn ab und zu gibt auch sie einen Laut dazu.
Doch bald treibt mich die Neugier wieder zu den entstellten Kindern. Da ich nun darauf gefaßt bin, erschreckt mich der Anblick weniger. Einige von ihnen nehmen wahr, daß jemand zu ihnen hinunterschaut. Als ich in mein Zimmer zurückgehen will, ist gerade die Türe zu dem Vierbett-Zimmer offen. Die schwarze Schwester, die die Kinder wickelt, winkt mich lachend heran, und ich gehe zögernd bis zum Türrahmen. Sie demonstriert mir die verschiedenen Reaktionen der Kinder, wenn sie mit ihnen spricht oder lacht. Ich bin erstaunt, wie freudig diese Kinder reagieren können. Es berührt und beschämt mich zugleich, daß ich jemals an der Lebensberechtigung dieser Wesen gezweifelt habe. Sie empfinden Schmerz und Freude, Hunger und Durst.
Von diesem Tag an gehe ich immer an die verschiedenen Türen und singe meine drei Lieder, die ich noch aus der Schulzeit kenne. Ich bin überwältigt, wieviel Freude sie schon nach einigen Tagen empfinden, wenn sie mich erkennen oder hören. Sogar das Wasserkopf-Baby hört auf zu wimmern, wenn ich ihm meine Lieder vorsinge. Endlich habe ich eine Aufgabe gefunden, bei der ich meine wiedergewonnene Lebensfreude weitergeben kann.
Eines Tages schiebe ich Napirai in einem Kindersitz mit Rädern im Sonnenschein hin und her. Sie lacht fröhlich auf, wenn die Räder knirschen und der Wagen holpert. Mittlerweile ist sie die Attraktion bei den Schwestern. Jede kommt und will das hellbraune Kind herumtragen. Geduldig läßt sie alles über sich ergehen und zeigt sogar Vergnügen. Auf einmal steht mein Mann mit seinem Bruder James vor mir. Lketinga stürzt sich sofort auf Napirai und hebt sie aus dem Wagen. Dann begrüßt er auch mich. Ich freue mich mächtig über ihren unverhofften Besuch.
Napirai jedoch scheint mit dem bemalten Gesicht und den langen, roten Haaren ihres Vaters Schwierigkeiten zu haben, denn schon nach kurzer Zeit fängt sie an zu heulen. James geht sofort zu ihr und spricht leise mit ihr. Auch er ist hingerissen von unserem Kind. Lketinga versucht es noch mit Singen, doch es nützt nichts, sie will zu mir. James nimmt sie ihm ab, und sofort wird sie wieder ruhig. Tröstend lege ich meinen Arm um Lketinga und versuche ihm zu erklären, daß sich Napirai erst wieder an ihn gewöhnen muß, da wir nun schon mehr als fünf Wochen hier sind. Verzweifelt will er wissen, wann wir endlich nach Hause kommen. Ich verspreche ihm, am Abend die Ärztin zu fragen, er solle dann noch einmal während der Besuchszeit kommen.
Bei der Nachmittagsvisite frage ich den Arzt, der mir versichert, daß ich das Spital in einer Woche verlassen kann, wenn ich nicht arbeite und Diät halte. In drei bis vier Monaten dürfe ich langsam wieder ein wenig Fett probieren. Ich glaube, mich verhört zu haben. Noch drei bis vier Monate soll ich dieses nur in Wasser gekochte Reis- oder Kartoffelmenu essen! Mein Verlangen nach Fleisch und Milch ist enorm. Am Abend erscheinen Lketinga und James wieder. Sie bringen mir mageres, gekochtes Fleisch mit. Ich kann nicht widerstehen und esse ganz langsam und ausgiebig kauend ein paar Brocken, den Rest gebe ich ihnen schweren Herzens mit. Wir vereinbaren, daß sie mich in einer Woche abholen kommen.
Nachts bekomme ich heftige Magenschmerzen. Mein Inneres brennt, als ob Feuer die Magenwand verzehren würde. Nach einer halben Stunde halte ich es nicht mehr aus und läute nach der Schwester. Als diese sieht, wie ich mich zusammengerollt im Bett winde, holt sie den Arzt. Er schaut mich streng an und fragt, was ich gegessen habe. Ich schäme mich sehr, als ich zugeben muß, etwa fünf Stückchen fettloses Fleisch zu mir genommen zu haben. Nun wird er sehr ärgerlich und schimpft mich eine dumme Kuh. Wozu ich eigentlich hergekommen sei, wenn ich mich nicht ihrer Weisung fügen wolle. Er habe nun genug Lebensretter gespielt, schließlich sei er nicht nur für mich zuständig!
Wenn nicht gerade die Ärztin ins Zimmer käme, müßte ich mir sicher noch mehr anhören. Jedenfalls bin ich geschockt über seinen Ausbruch, da er bisher sehr nett war. Napirai schreit, und ich heule ebenfalls. Er verläßt das Zimmer, und die Schweizer Ärztin beruhigt mich,
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