Die Weiße Ordnung
düster. »Man meistert entweder das Chaos oder es meistert einen. Wir können uns nicht einmal eine einzige undisziplinierte Chaos-Bündelung in Candar leisten.«
Cerryl schwieg.
»Du wunderst dich sicher – alle jungen Magier wundern sich darüber –, warum die Gilde keinen duldet, der sich nicht an die Regeln hält. Sind wir so machtbesessen? Sind wir so unsicher, dass jeder, der sich uns widersetzt, vernichtet werden muss?« Ein trauriger Zug um die Mundwinkel verdunkelte den Gesichtsausdruck des Magiers, der sich eine dünne schwarze Haarsträhne zurückstrich, vorsichtig, damit sie seine Glatze nicht freilegte. »Ich fürchte mich vor der Zeit, wenn es keine Gilde mehr gibt und keine Disziplin.«
Wie könnte es keine Gilde mehr geben? Cerryl warf einen Blick zum Fenster, die geschlossenen Läden verwehrten ihm jedoch den Blick auf die Straße, die sich nordwärts zum Platz der Handwerker schlängelte.
»Alles ist vergänglich, junger Cerryl, auch die Gilde und Fairhaven; irgendwann wird ein Chaos-Besessener Candar unterjochen, denn die Besessenen erlangen ihre Macht schneller.« Myral schüttelte den Kopf. »Ich habe es schon einmal erlebt … doch es wird noch Generationen dauern.« Er griff nach dem Krug und goss dampfenden Apfelwein in den anderen Becher, den er Cerryl reichte. »Ich war nachlässig und dabei zieht es hier so stark.«
Dankbar schlürfte Cerryl den heißen Apfelwein.
»Und was hat das Gefasel eines alten Magiers mit den Kanälen zu tun?« Myrals Traurigkeit verschwand mit einem erzwungenen Lächeln. »In den Kanälen lernt jeder Magierschüler, wie man mit der Chaos-Energie umgeht und wie man sie lenkt. Wenn du versagst, wirst nur du darunter zu leiden haben.«
Das sah Cerryl ein.
»Es gibt zwei Gründe für den Kanaldienst – drei, wenn man die Instandhaltung mitzählt, aber dort besteht deine Aufgabe darin, die Steinmetzen zu schützen. Du musst lernen, die Chaos-Kräfte unter deine Kontrolle zu bringen, und du musst lernen, einen Schild gegen diese Kraft aufzubauen – entweder gegen das Chaos, das du selbst hervorrufst, oder das eines anderen.
Die größten Magier – nicht die bekanntesten, sondern die größten – sind die mit den stärksten Schilden. Ich überlasse es dir herauszufinden, warum das so ist.«
Das war bezeichnend für alle Magier: Sie überließen es den Studenten, die Rätsel zu lösen. Gehörte das zu den Prüfungen oder waren sie einfach zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt?
»Du wirst niemals Chaos-Kräfte hervorrufen oder abschirmen, es sei denn in den Kanälen oder wenn ich oder ein Obermagier es anordnen.«
»Sind die Obermagier die mit den Kometenanstecknadeln?«
»Weißt du, warum niemand euch Magierschülern etwas darüber mitteilt? Weil die Gilde nichts übrig hat für Hitzköpfe.« Myral nickte, offenbar mehr zu sich selbst als zu Cerryl. »Man muss vor allen Dingen Vorsicht walten lassen, wenn man mit Chaos umgeht.« Myral lächelte. »Wusstest du, dass man Anya zu dir schickte, um dir Angst einzujagen?«
»Um festzustellen, ob ich fliehen würde?«
»Und Kinowin hatte die Anweisung, dich in dem Glauben zu lassen, dass du die Möglichkeit hättest zu fliehen, was ihm allerdings nicht sehr behagte.«
Cerryl sah sich halb bestätigt und halb verwirrt.
»Der Kanal ist eine härtere Prüfung.« Myral hob den Becher mit dem dampfenden Apfelwein. »Auf dass der morgige Tag wärmer wird.«
Cerryl hob seinen eigenen Becher und verneigte den Kopf vor dem dicken Magier. Er wusste, dass ihm nichts anderes übrig blieb.
LXII
O bwohl die Sonne am klaren Himmel auf Cerryls Rücken schien, war ihm kalt, denn der eisige Wind blies aus Nordwesten geradewegs in sein Gesicht. Er und Myral wanderten auf einer Seitenstraße Richtung Westen, gefolgt von zwei Weißen Gardisten.
Myral blieb neben einer weißen, kahlen Granitwand stehen – der Seitenwand eines Lagerhauses – und kniete sich neben das Kanalgitter aus Bronze. Der ältere Magier fuhrwerkte an seiner Börse herum, bis er einen großen Bronzeschlüssel herauszog.
»Cerryl.«
Cerryl beugte sich hinunter.
»Sieh genau hin, was ich mit dem Schlüssel mache. Gebrauche deine Sinne.«
Cerryl spürte ein Chaos-Feld, das sich um das schwere Bronzeschloss hüllte, und darüber dann eine Dunkelheit, bis Myral den Schlüssel umdrehte und das Gitter öffnete.
»Heb das Gitter hoch.«
Cerryl musste sich gehörig anstrengen, um das Gitter anzuheben; es ließ sich durch zwei verborgene
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