Die Weiße Ordnung
über dem Haus stand. »Das Tagwerk ist vollbracht. Abendessen steht bald auf dem Tisch.« Er drehte sich um und marschierte flott den Hang hinauf.
Brental nickte und folgte seinem Vater.
Die untergehende Sonne wärmte sein Gesicht und Cerryl blickte hinunter auf die Klinge, die gleiche weiße Bronze, aus der das Messer seines Vaters geschmiedet war; er dachte daran, wie der nun Tote die Pfeile und Feuerblitze abgewehrt hatte … und wie vergeblich seine Bemühungen gewesen waren.
Und wie er Cerryl gesucht hatte. Der Junge schauderte.
XXI
C erryl las den Absatz in dem Buch Die Farben der Weiße wieder und wieder; er versuchte, den Klang und die Bilder im Gedächtnis zu behalten, wie es Siglinda ihrer Schülerin Erhana während einer der Unterrichtsstunden beigebracht hatte. Cerryl hatte zufällig mitgehört, als er Holz an der Hauswand aufgeschichtet hatte.
»… alles, was unter der Sonne existiert, kann nur aufgrund des Chaos der Sonne existieren. Selbst der weiseste Magier kann nicht das Geringste auf und unter der Erde wahrnehmen, wenn er dazu nicht das Chaos einsetzt.«
Er schüttelte den Kopf. Die Worte verstand er, doch ihre Bedeutung konnte er nicht erfassen.
Brental hatte gesagt, dass der Mann, der vor den lydischen Lanzenreitern und dem Weißen Magier geflohen war, Chaos-Feuer auf den Magier geschleudert hatte. Cerryl hatte es gesehen, und auch wie der Magier es mit nur wenig mehr als einem flüchtigen Blick abgewehrt hatte. So war es Cerryl jedenfalls erschienen. Dennoch hatte sich der Flüchtige eine Zeit lang mit seinem eigenen Feuer behaupten können.
Cerryl war sich nicht sicher, ob er dem blonden Mann den Sieg gewünscht hätte, das kalte und unbeteiligte Verhalten des Weißen Magiers würde er jedoch so schnell nicht mehr vergessen; als wäre der Blonde nur Ungeziefer gewesen, das es zu vernichten galt.
Er räusperte sich, als er bemerkte, dass er die Worte leise vor sich hin gemurmelt hatte. Mit fest aufeinander gepressten Lippen las er die Seite erneut, dann blätterte er weiter.
Noch immer nichts über Chaos-Feuer.
Er las die nächste Seite und dann noch eine.
Er starrte auf die Farben der Weiße. Warum fehlte bloß der zweite Teil, Geschichte war wertlos für ihn. Der zweite Teil hätte bestimmt alles erklärt, auch wie man Chaos-Feuer erzeugte.
Er runzelte die Stirn und zog sich nachdenklich am Kinn, das noch immer bartlos und glatt war. Wie nur konnte er Chaos-Feuer erzeugen?
In der Dämmerung hielt er seine linke Hand hoch und konzentrierte sich darauf, Feuer aus seinen Fingerspitzen züngeln zu lassen, wie es der Flüchtende getan hatte.
War da nicht eben ein Glühen zu sehen gewesen? Für einen kurzen Augenblick leuchtete in der Düsternis ein winziger Funken an der Spitze seines Zeigefingers auf. Dann verschwand der Lichtpunkt wieder. Der Schweiß stand Cerryl in Perlen auf der Stirn. Ein tiefes, hässliches Rot verweilte für wenige Momente in der Luft.
Cerryl holte tief Luft, mehrmals hintereinander.
XXII
I m leichten Nieselregen, der aus den niedrig hängenden Wolken fiel, wusch sich Cerryl mit der dunkelbraunen Wäscheseife Hände und Gesicht an dem Brunnen am Hang über dem südlichen Ende der Veranda. Er schüttelte die Hände in der feuchten Luft so trocken wie er nur konnte. Dann ging er zur Veranda des Wohnhauses. Rinfur war bereits auf dem Weg in die Küche. Viental besuchte – wieder einmal – seine ›Schwester‹.
Dylert wartete mit düsterer Miene auf der obersten Stufe der Veranda.
»Ja, Ser?« Cerryl fühlte, wie sich seine Eingeweide zusammenzogen, aber er behielt den freundlichen Gesichtsausdruck bei.
»Du hast die Buchstaben gelernt, nicht wahr, Junge?«, fragte Dylert und trat einen Schritt zurück. Er gab Cerryl ein Zeichen, sich auf die Bank an der Hauswand zu setzen.
»Ser?« Als Cerryls Blick dem des Sägemeisters begegnete, gelang es ihm, unschuldig dreinzublicken. Er setzte sich nicht.
Dylert lachte. »Junge, aus deinem Blick könnte ich nicht das Geringste schließen, aber meine Tochter kann ich durchschauen wie ein dünnes Blatt Papier.«
»Ja, Ser. Ich habe sie gebeten, mir die Buchstaben beizubringen. Aber nur, wenn ich nicht arbeiten musste, Ser.« Cerryl blickte dem Sägemeister weiterhin direkt ins Gesicht. »Meistens nach dem Abendessen.«
»Ich kann mich nicht im Geringsten über deine Arbeit oder das, was du sonst tust, beklagen, junger Cerryl.« Dylert strich sich über den Bart, dann räusperte er sich. »Das
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