Die Weiße Ordnung
Schrank, in den Fächern lagerten gerolltes Leder, Pergament, Palimpsest, Glasgefäße, mit Korken verschlossene Arzneifläschchen aus Steingut und noch viele andere Gegenstände, die Cerryl nicht kannte. Zu beiden Seiten des Schrankes waren Ablageflächen angebracht: Links lag verschiedenes Handwerksgerät, rechts lange grüne Lederstreifen, zwei Spann breit und mehr als zwei Ellen lang. Ein Schreibtisch schloss bündig mit der linken Ecke des Raumes ab, der Arbeitstisch mit der rechten. Der Schreiber nähte etwas mit einer langen Nadel, die zwischen seinen Fingern blitzte.
Cerryl wartete, bis der Mann seine Arbeit unterbrach, dann sprach er: »Meister Tellis?«
Tellis richtete sich auf und drehte sich um. Cerryl blickte in ein hageres und überraschend schmales Gesicht im Vergleich zum rundlichen Körperbau. »Ja, mein Junge? Machst du einen Botengang für deinen Meister?« Der Schreiber kniff die Augen zusammen, als er Cerryl musterte.
»Nein, Ser.« Cerryl stellte sich vor ihn und hielt ihm die Schriftrolle hin. »Meister Dylert schickt mich, Ser.«
Ein kurzes Unbehagen überschattete Tellis’ Gesicht, als der Schreiber die Schriftrolle entgegennahm. Cerryl wartete und wandte den Blick nicht vom Schreiber ab, so gern er auch den Arbeitsraum näher untersucht hätte.
Tellis las die Schriftrolle und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, einmal, zweimal, bis er sich dem unteren Ende der Rolle näherte. »Dylert schreibt, du seist ein entfernter Verwandter.«
»Ja, Ser.«
»Er schreibt auch, dass du hart arbeiten kannst. Das schreibt Dylert nicht ohne Grund.« Tellis kratzte sich am Kopf und brachte dabei das dichte braune Haar ziemlich in Unordnung. »Erzähl mir von Meister Dylert. Wie sieht er aus und welche Vorlieben hat er?«
»Meister Dylert …« Cerryl gelang es, die Stirn nicht zu runzeln. »Er ist den Bruchteil einer Spanne größer als Ihr, Ser, und so groß er auch ist, er ist von drahtiger Statur. Sein Bart ist schwarz mit ein wenig Silber darin. Seine Augen sind braun. Immerzu möchte er die Mühle gefegt haben und die Bretter und Balken in den Schuppen nach Größe und Güte gestapelt.« Cerryl zuckte mit den Achseln. »Seine Ausdrucksweise ist etwas unwirsch, aber er ist gerecht.«
»Und sein Haushalt?«
»Seine Gemahlin, Dyella, ist sehr freundlich.« Cerryl lächelte. »Oft gab sie mir eine extra Scheibe Brot oder sonst etwas zu essen.«
»Wie alle Jungen in deinem Alter denkst du nur ans Essen. Erzähl weiter.«
»Sie hat braunes Haar. Ihres ist dünner als Dylerts. Erhana kommt nach ihrer Mutter, bis auf das Gesicht, und Brental … ich weiß nicht. Er ist der Einzige mit rotem Haar in der Familie, so viel ich weiß, aber auch er war gut zu mir.«
»Wo ist deine Familie?«
»Alle gestorben. Mein Onkel … er lebte in Montgren.« Cerryl schluckte und musste gegen die Tränen ankämpfen. Warum brachte ihn diese Frage so aus der Fassung?
»Du hast also bei deinem Onkel gelebt?«
»Ja, Ser. Bis ich bei Meister Dylert anfing.«
»Du vermisst ihn, deinen Onkel, meine ich?«
Cerryl nickte und schluckte erneut. »Meine Tante auch.«
»Dylert … ein guter Menschenkenner, so gut, dass er sich fast selbst damit schadet.« Tellis schüttelte den Kopf. »Tja … nun bist du schon einmal da. Ich brauche eigentlich keinen Lehrling, musst du wissen, aber jemanden, der mir zur Hand geht … könnte ich schon gebrauchen.«
»Ja, Ser.« Cerryl heftete den Blick weiter auf Tellis und sprach höflich.
»Es gibt jedoch allerdings einiges zu beachten, mein Junge …«
»Cerryl.«
»Wichtige Dinge, wenn du beabsichtigst, länger hier zu bleiben.«
Cerryl nickte erneut und versuchte stillzustehen, als der Schreiber ihn noch einmal musterte. Er bemühte sich, ernsthaft und aufmerksam zu wirken.
»Nun, Cerryl … du wirst nach und nach immer mehr lernen. Aber manches wird sich nicht ändern. Du wirst das Wasser für alle holen. Wasser ist knapp hier in Fairhaven und dies ist ein sauberes Haus. Du wirkst ordentlich, aber sauber ist besser. Ich erwarte von dir, dass du mindestens jeden dritten Tag badest und dir immer Hände und Gesicht wäschst, bevor du das Arbeitszimmer betrittst. Das wird nach dem Frühstück und nach dem Mittagsmahl sein. Schmutzige Finger und Schweiß haben schon mehr Bücher zerstört als Feuer oder Ungeziefer. Du wirst noch einen Satz Kleider brauchen. Ich werde sie dir besorgen, aber waschen musst du sie selbst.«
Cerryl nickte gehorsam. »Ja, Ser.«
»Noch etwas. Du
Weitere Kostenlose Bücher