Die Weiße Ordnung
Cerryl. Der Umschlag war abgegriffen und zerkratzt und außerdem durchdrungen von Weißem Chaos. »Lies das. Kannst du lesen?«
»Ja, Ser. Es gibt wahrscheinlich einige Wörter, die ich noch nicht kenne.« Cerryl folgte dem Beispiel seines Lehrmeisters und stand schnell auf, die Augen immer noch auf den Magier mit den sonnengelben Augen gerichtet.
»Frag Kesrik oder einen der anderen Schüler. Oder frag mich, wenn du niemanden findest, der dir eine Antwort geben kann.«
»Ja, Ser.« Cerryl hätte Jeslek auf keinen Fall gefragt und nach dieser Erklärung schon gar nicht.
»Du hast zwei Achttage Zeit, um die erste Hälfte der Schrift zu lesen. Aber fang heute schon damit an, ich werde dich in der nächsten Stunde ausfragen über das, was du bereits gelesen hast.« Jeslek deutete auf die Tür. »Kesrik wartet schon. Komm morgen wieder.«
Cerryl verbeugte sich und verließ den Raum.
Wie Jeslek gesagt hatte, stand Kesrik draußen bei den Wächtern.
»Guten Tag, Kesrik.« Cerryl verneigte den Kopf, als er ihn sah.
»Es regnet.« Kesrik verbeugte sich kaum merklich, als er an Cerryl vorbei durch die Tür ging und sie hinter sich zuzog.
Cerryl blieb stehen und wunderte sich wieder einmal über die Merkwürdigkeiten in diesen Gildehallen der Magier: so wenig wurde wirklich ausgesprochen, so kurz waren die Unterrichtsstunden; er verbrachte mehr Zeit damit, auf Jeslek zu warten, als ihm zuzuhören oder zu lernen. Oder gaben sie ihm nur etwas Zeit, um sich einzugewöhnen? Wenn dem so war, was kam dann als Nächstes?
Er sah hinunter auf das in Leder gebundene Buch in seinen Händen und dann auf die geschlossene, weiße Tür. Bevor er sich anschickte, in den Gemeinschaftsraum, in die Bibliothek oder in sein Zimmer zu gehen – er hatte sich noch nicht entschieden, wo er mit dem Lesen beginnen sollte –, schlug er die Titelseite auf: Die Farben der Weiße – Handbuch der Gilde von Fairhaven.
Fast hätte Cerryl losgelacht. Seit Jahren hielt er die Hälfte genau dieses Buches versteckt und heimlich musste er in dem Band lesen, den Tellis kopiert hatte, und jetzt besaß er sein eigenes Exemplar davon und man hatte ihm geradezu befohlen, es zu lesen.
Er schüttelte den Kopf und dachte an die Bücher, die noch in Tellis’ Haus verborgen lagen – und an das zerbrochene Amulett. Das Amulett vermisste er am meisten.
Cerryl schlug das Buch zu und ging die Treppe hinunter.
Unten angekommen warf er einen Blick in die Bibliothek, wo er nach Faltar suchte, aber der Raum war leer bis auf zwei Magier an dem Tisch in der gegenüberliegenden Ecke: Fydel und Esaak. Der braunhaarige und langbärtige Fydel fuchtelte wild herum, schien etwas in die Luft zu malen. Davon offenbar unberührt saß Esaak mit dem Rücken zu Cerryl.
Cerryl schlich auf Zehenspitzen zum Gemeinschaftsraum. Er wollte Faltar fragen – wenn er ihn denn treffen sollte –, auf was er, wenn überhaupt, beim Lesen besonders achten sollte. Mit leisen Schritten ging er den Flur entlang und fragte sich, ob er irgendwelche neuen Wahrheiten in dem Buch entdecken würde, das er beim ersten Lesen so schwierig und langweilig gefunden hatte.
Er hoffte es zumindest, aber er schürzte zweifelnd die Lippen, während er darüber nachdachte, was er in den Farben der Weiße bislang gelesen hatte.
XLVIII
O bwohl eine Brise durch die offenen Fenster in den gemeinschaftlichen Studiersaal wehte, perlte der Schweiß an Cerryls kurzen Haaren herab und lief ihm über Stirn und Nacken. Cerryl achtete nicht darauf und blätterte zur nächsten Seite der Farben der Weiße. Er zwang sich, jedes Wort zu lesen und die Gedanken, die dahinter steckten, zusammenzufügen; dabei fragte er sich, wie all das wohl mit dem zusammenpasste, was in Tellis’ Geschichtsbuch stand, mit der Arbeit in Dylerts Mühle oder mit der Wirklichkeit in Fairhaven, die beides enthielt, Chaos-Feuer und den Reichtum von Menschen wie Muneat … und er fragte sich auch, warum sein Vater gejagt worden war und sie ihn hatten laufen lassen.
So vieles ergab keinen Sinn.
»Du liest das so schnell.« Auf der anderen Seite des Studiertisches rutschte Faltar unruhig herum, als er von seinem Buch aufsah; sein blondes Haar leuchtete beinahe weiß in der Spätnachmittagssonne, die ihn durch die hohen Fenster von hinten anstrahlte.
»Kein Wunder … er war ein Schreiber. Sie tun nichts anderes.« Das Geflüster kam von dem einzigen noch besetzten Tisch im Studiersaal, an dem Bealtur saß.
Cerryl starrte weiterhin auf die
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