Die Weiße Rose
hatten. Während dieser Zeit ließ sich Scholl von seinem Münchener Buchhändler Söhngen einige Dostojewski-Romane an die Front schicken, in denen er mit seinen Freunden eifrig las. Neben den Dostojewski-Werken hatten die Freunde eine veritable Bibliothek dabei. Sie lasen zusammen Shakespeare, Rilke, Stifter, Kleist, Jean Paul, Goethe und Fontane, aber auch Schopenhauer, Kant, Bismarck und Guardini. Werner Scholl, der ganz in der Nähe stationiert war, kam seinen älteren Bruder öfter besuchen und tauschte mit ihm Literatur aus.
Anfang August nahmen die Kämpfe zu. Im Norden und Süden wurde die deutsche Front immer stärker eingedrückt, nur um Wjasma bildete sich ein Brückenkopf, zu dem auch Gschatsk gehörte.
Bei den schweren Abwehrkämpfen nördlich und südlich des Brückenkopfs wurden mehrere deutsche Abteilungen aufgerieben. Die Anzahl der Verwundeten stieg auf 50 bis 70 Mann pro Tag, an manchen Tagen waren sogar 100 Verletzte neu zu versorgen. In den Gefechten vom August bis zum Oktober 1942 verlor die 252. Infanterie-Division fast 10% ihrer Soldaten.
Der durch Rote-Kreuz-Fahnen gekennzeichnete und damit eigentlich völkerrechtlich geschützte Hauptverbandsplatz geriet immer stärker unter Beschuss und musste mehrmals verlegt werden. Furtwängler und Schmorell wurden als „Hilfsassistenten“ bei Operationen eingesetzt; dabei infizierte sich Schmorell mit einer sehr hartnäckigen Form der Diphterie. Im September arbeitete Scholl im endlich fertig gestellten Seuchenlazarett und konnte dort gleich seinen erkrankten Freund behandeln.
Die im Hauptverbandsplatz tätigen Oberärzte nahmen ihre Ausbildungsverpflichtungen ernst. Wenn sie Zeit hatten, hielten sie sogar Vorlesungen – selbst einen Vortrag über Säuglingspflege gab es für die Studenten zu hören.
Graf und Furtwängler traf es härter. Sie wurden zum Gefechtsstand des 461. Infanterie-Regiments an die Front vor Gschatsk geschickt. Das Regiment war durch mehrmalige russische Angriffe auf seine Stellungen in den vergangenen Wochen fast aufgerieben worden. Erst im Oktober 1942 konnte es wieder auf 60% seines Personalbestandes aufgefüllt werden.
Die im Rücken der Front immer stärker ansteigende Partisanentätigkeit machte die Versorgung der Soldaten zunehmend schwierig. Hans Scholl berichtet in einem Brief, dass bei ihrer Ankunft „innerhalb 8 Tagen 48 Zügegesprengt“ 122 wurden. Außerdem ging der 252. Infanterie-Division allmählich die Munition aus. „Alles fehlt“, notierte Scholl.
Die Ernährung der Truppe war schlecht, in den Frontstellungen wurde regelrecht gehungert, auch weil es zu wenige Transportmöglichkeiten gab. Lastwagen, für die man kaum Kraftstoff und nur wenig Ersatzteile zur Verfügung hatte, wurden durch Panjewagen ersetzt. Selbst die anspruchslosen russischen Panjepferdchen bekamen zu wenig Futter, weil die Heuernte durch den verregneten Sommer sehr schlecht ausgefallen war. Die Roggen- und Kartoffelernte, von der neben den deutschen Soldaten auch die verbliebene russische Bevölkerung leben musste, war ebenfalls hinter den Erwartungen zurückgeblieben. In der Truppe fürchtete man den schon bald bevorstehenden Winter. So wie es aussah, gab es auch diesmal keine adäquate Winterbekleidung.
Um die bedrohten Versorgungswege zu sichern, wurden die Männer des 461. Infanterie-Regiments verstärkt zur Partisanenbekämpfung eingesetzt. Sie bekamen den Befehl, besonders „radikal durchzugreifen“, 123 d. h. die Grundsätze des Völkerrechts außer Acht zu lassen. Im Raum Wjasma war außerdem das SS-Einsatzkommando 9 stationiert. Binnen weniger Wochen brachten sie 25 000 Russen, vor allem russische Juden um. Dem deutschen Vernichtungskrieg im Osten fielen auch bei Wjasma ungezählte russische Zivilisten zum Opfer.
Am 30. Oktober 1942 wurden Scholl, Schmorell, Graf und Furtwängler von der Front abgezogen und zurWeiterführung ihres Studiums nach München abkommandiert. Der Brückenkopf von Wjasma wurde nach weiteren schweren Kämpfen von der Roten Armee erobert. Moskau war danach nicht mehr von deutschen Truppen bedroht.
An Hitlers „Weltanschauungs- und Rassekrieg“ hatte besonders die russische Zivilbevölkerung zu leiden. Sie geriet nicht nur durch den erbarmungslosen Partisanenkrieg zwischen die Fronten. Weil die deutschen Nachschubwege so weit waren und wegen der Partisanengefahr, konnte das OKW die Versorgung der deutschen Truppen nicht sicherstellen. Die Wehrmacht sollte sich deshalb wie ein Söldnerheer des
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