Die Weiße Rose
Dreißigjährigen Krieges „aus dem Lande ernähren“.
Das bedeutete für die einheimische Zivilbevölkerung, dass sämtliche produzierten Lebensmittel an die Besatzer abzuliefern waren. Die bedienten sich zuerst einmal selbst, dann wurde ein großer Teil der zusammengerafften Lebensmittel in das Reich verschickt. Von dem kleinen Rest, der dann noch übrigblieb, musste sich die einheimische Bevölkerung ernähren. Jeder Einheimische ab 14 Jahren hatte Zwangsarbeit zu leisten. Nur Zwangsarbeiter bekamen überhaupt Lebensmittel zugeteilt. Alle anderen, kleine Kinder, Kranke und Alte, gingen leer aus.
Auch am Hauptverbandsplatz von Gschatsk arbeiteten viele Hundert zwangsdienstverpflichtete russische Staatsbürger. In der Nähe gab es außerdem Zwangsarbeiter- und ein Kriegsgefangenenlager. Zu diesen Menschen begannen Schmorell, Scholl, Furtwängler und später auch Graf Kontakte zu knüpfen.
Besonders für Schmorell war der Russlandeinsatz wie ein Nach-Hause-Kommen, so dass allein die russische Landschaft ihn schon tief bewegen konnte:
„Schönes, herrliches Russland! Die Birke ist dein Baum. Dort, weit, weit, wo Himmel und Erde sich berühren – am Rand der unendlichen weiten Ebene steht sie einsam und weit in den Himmel – Du einsame Birke, der ewige Steppenwind liebkost, zerrauft, bricht Dich, Du bist sein ewiger Spielball.“ 124
Aber auch die Menschen hatten es ihm angetan. Dem Sohn eines von den Bolschewisten vertriebenen deutschen Arztes war dabei eines besonders wichtig:
„Ich habe den allerbesten Eindruck [...] und seltsam, alle Menschen sind über den Bolschewismus einer Meinung: nichts auf der Welt hassen sie so wie diesen.“ 125
Die Erlösung vom Bolschewismus konnte für ihn natürlich nicht der Faschismus sein. Schmorell schwebte eine ganz andere Lösung vor:
„Nicht umsonst haben sie zwanzig Jahre gelitten und leider noch jetzt – nein, nicht umsonst [...] die Welt muss anders werden, russischer.“ 126
Durch die „russische Seele“, die er durch sein Kindermädchen kennengelernt hatte, sollte für ihn die Welt erlöst werden. Gemeinsam mit seinen Freunden machte er sich auf die Suche nach ihr.
Am 2. August 1942 besuchten die Freunde einen orthodoxen Gottesdienst in einer zerstörten Kirche.Die Medizinstudenten bewunderten die Schönheit des russischen Chorgesangs und waren von der Frömmigkeit der einfachen Menschen tief berührt. Besonders für Hans Scholl stand die gläubige Demut der Russen für das Gute. Die Deutschen aber hatte ihr Hochmut verführt. Für Scholl waren seine Landsleute deshalb unrettbar dem Bösen verfallen:
„Die Deutschen sind unverbesserlich. Ihre Falschheit steckt ihnen schon so tief im Fleisch, dass man sie nicht exstirpieren könnte, ohne den ganzen Körper zu töten. Ein verlorenes Volk.“ 127
Das viele, von den Deutschen über die Russen gebrachte Leid empörte ihn. In seinem Russland-Tagebuch klagt er Gott an und fordert eine gerechte göttliche Strafe für das verworfene deutsche Volk:
„Ist das Maß der Leiden noch nicht voll? Warum wird das Leid so einseitig ausgestreut? Wann fegt ein Sturm endlich all diese Gottlosen hinweg, die Dein Ebenbild beflecken, die einem Dämon das Blut von Tausenden von Unschuldigen zum Opfer darbringen?“ 128
Und so bekam der Fronteinsatz für Scholl eine spirituelle Dimension:
„Wo jede Heimat aufhört, ist Gott am nächsten.“ 129
Anders als in Frankreich half ihm sein neuer, vertiefter Glaube, mit den Todes- und Gewalterfahrungen fertig zu werden, die er während des Fronteinsatzes täglich erlebte:
„Wenn Christus nicht gelebt hätte und nicht gestorben wäre, gäbe es wirklich keinen Ausweg. Dann müsste alles Weinen grauenhaft sinnlos sein. Dann müsste man mit dem Kopf gegen die nächste Mauer rennen und sich den Schädel zertrümmern. So aber nicht.“ 130
Er stellte seine traumatischen Kriegserlebnisse und die rassistisch motivierte, ausbeuterische Besatzungspolitik der Deutschen in einen theologisch-apokalyptischen Zusammenhang. Der Russland-Feldzug galt ihm nicht als Auseinandersetzung zweier politischer Ideologien, sondern er sah darin das Wirken eines Dämons, der das deutsche Volk verführt hatte und es nun mit sich in den Abgrund riss.
So gut es ging, versuchte Scholl, Sühne zu leisten. Einmal beerdigte er zusammen mit Schmorell den halb verwesten Leichnam eines russischen Soldaten, den sie im Gebüsch gefunden hatten. Ein anderes Mal verhinderten er und seine Freunde die Misshandlung von
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