Die Weiße Rose
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Auf dem Transport hatten sich Scholl, Schmorell, Graf und noch ein weiterer Medizinstudent, Hubert Furtwängler, zusammengetan. Schmorell und Furtwängler kannten sich noch aus ihrer Wehrdienstzeit vor dem Krieg. Zusammen bildeten sie ein unzertrennliches „Kleeblatt“, das die unerfreuliche Zeit in Russland gemeinsam durchstehen wollte. Die lange Eisenbahnfahrt führte sie über Warschau. Sie konnten dort einen Zwischenstopp einlegen. Ihre Besichtigungstour durch die polnische Hauptstadt führte sie auch am jüdischen Getto vorbei. Der Anblick erschütterte Scholl zutiefst. An seine Eltern schrieb er:
„Warschau würde mich auf die Dauer krank machen. Gottlob fahren wir morgen weiter. Die Ruinen allein würden einen wohl nachdenklich stimmen. [...] Auf derStraße liegen halb verhungerte Kinder und wimmern um Brot und von der anderen Seite hört man aufreizende Jazzmusik, und während in den Kirchen die Bauern den Steinboden küssen, kennt die sinnlose Lust in den Kneipen keine Grenzen. Überall Untergansstimmung.“ 118
Weiter berichtet er seinen Eltern bewundernd vom Überlebenswillen und vom Stolz der Polen. Jede Herrenmenschenattitüde gegenüber den angeblichen polnischen Untermenschen ist ihm fremd:
„Trotzdem glaube ich an die unerschöpfliche Kraft der polnischen Menschen. Sie sind zu stolz, als dass es einem gelänge, ein Gespräch mit ihnen anzuknüpfen. Und wo man hinsieht spielen Kinder.“ 119
Scholls Blick auf die von den Deutschen besetzten Länder war nicht von den üblichen Ressentiments geprägt. Sowohl in Frankreich als auch in Polen war er neugierig auf das Land und auf die Menschen. Er wollte gerne mit ihnen ins Gespräch kommen, um mehr über sie zu erfahren. Er kam nicht als Feind, sondern als ein an ihrem Schicksal interessierter Mitmensch.
Inge Scholl berichtet von einer weiteren Begegnung auf seinem Bahntransport an die Front. Hans sah bei einem Aufenthalt eine Gruppe von jüdischen Mädchen und Frauen, die am Bahndamm schwere Zwangsarbeit leisten mussten. Einem schönen jüdischen Mädchen wollte er seine „eiserne Ration“ schenken, was natürlich strengverboten war und eine empfindliche Strafe nach sich ziehen konnte. Das Mädchen lehnte die Gabe des feindlichen Soldaten ab. Da pflückte er eine Margerite und legte sie zu den Lebensmitteln. Das Mädchen lächelte, nahm die eiserne Ration und steckte sich die Margerite ins Haar. Einem alten jüdischen Zwangsarbeiter schenkte er später seinen Tabak. 120
Diese Mitmenschlichkeit wollte er auch an der Front bewahren. Er und Schmorell waren der Ansicht, dass sie als Mediziner und Pazifisten die Aufgabe hatten, den Verwundeten auf beiden Seiten zu helfen.
Der Transport endete in Wjasma, einer „Frontsammelstelle“ für etwa 100 000 deutsche Soldaten. 15 000 von ihnen gehörten zur 252. Infanterie-Division. 121 Dieser Einheit wurden die Sanitäts-Feldwebel Scholl, Schmorell, Graf und Furtwängler zugeteilt.
Sie wurden in den Bereich der Infanterie-Division nach Gschatsk verlegt, einem Verkehrsknotenpunkt, der etwa 160 Kilometer von der russischen Hauptstadt entfernt lag. Die von den Kämpfen stark zerstörte Ortschaft lag an der Eisenbahnstrecke nach Moskau. Die „Rollbahn“, auf der ein großer Teil des deutschen Nachschubs befördert wurde, führte ebenfalls an der Ansiedlung vorbei. Aus diesen Gründen war Gschatsk für die Versorgung der deutschen Fronttruppen strategisch wichtig.
Willi Graf hatte den Ort bereits während der schweren Abwehrkämpfe im Frühjahr 1942 kennengelernt. Damalshatte die 252. Infanterie-Division mehrere russische Offensiven unter hohen Verlusten abgewehrt. Auch viele Sanitäter waren damals gefallen.
Scholl und seine Kameraden wurden der 1. Sanitätskompanie zugeteilt und sollten im Hauptverbandsplatz arbeiten, der etwa 10 Kilometer hinter der Front in einem Wäldchen lag. Selbst hier waren die Freunde sowjetischen Artilleriefeuern ausgesetzt. Außerdem mussten sie mit Tieffliegerbeschuss rechnen. Die russischen Schlachtflugzeuge konnten fast unbehelligt über dem Wäldchen kreisen, weil die stark gepanzerten Iljuschin-Maschinen gegen die Angriffe deutscher Jagdflugzeuge und die deutsche Flak nahezu immun waren.
Trotzdem hatten vor allem Scholl und Graf anfangs großes Glück. Sie sollten in einem Seuchen-Feldlazarett arbeiten, das in einigem Abstand zum Hauptverbands-platz errichtet werden sollte, aber noch nicht fertig war. So hatten sie einige ruhige Tage, in denen sie wenig zu tun
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