Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
von ihrem Magen in ihrem Körper ausbreitete. Sie trat ans Fenster, lauschte der sanften Stimme von João Gilberto und beobachtete das Treiben unter ihr. Die Bilker Allee war noch nicht ganz zur Ruhe gekommen, auch wenn der Verkehr spärlicher wurde und nur noch vereinzelte Fußgänger über den Bürgersteig hasteten. Alle Geschäfte hatten bereits geschlossen, doch in den Gaststätten brannte noch Licht. In der Pizzabude an der Straßenecke wischte ein müder Pizzabäcker die Theke ab, sein Kollege stellte die Stühle zusammen. Ein dunkler Wagen hielt vor dem Haus gegenüber. Auf der Beifahrerseite stieg eine blonde Frau aus. Sie wankte leicht, beugte sich noch einmal ins Innere des Fahrzeugs, vermutlich um ihrem Begleiter einen Abschiedskuss zu geben, dann torkelte sie auf die Haustür zu. Der Wagen raste mit quietschenden Reifen davon, noch bevor die Frau den Schlüssel aus der Handtasche gekramt hatte. Ein echter Gentleman, dachte Lydia.
Sie fragte sich, ob die Frau glücklich war, oder zumindest zufrieden. Dann war sie besser dran als Lydia, die das Gefühl nicht loswurde, einen Tag lang auf der Stelle getreten zu sein. Sie hatten stundenlang Aussagen und Indizien ausgewertet, ohne dass etwas Neues dabei herausgekommen war. Vom LKA war noch nichts in Sachen DNA gekommen. Aus dem Haus der Bruckmanns hatte die Spusi einen Besen, einen Schrubber und zwei Handfeger mitgenommen, aber die Spuren waren noch nicht ausgewertet. Sie hatte es Salomon überlassen, den entsetzten Eltern den Grund für diese Maßnahme zu erläutern. Am Nachmittag waren die Resultate der toxikologischen Untersuchung eingetroffen, doch die halfen ihnen ebenfalls nicht weiter. Antonia Bruckmann hatte keinerlei Drogen oder Medikamente im Körper gehabt.
Lydia schloss die Augen, dachte an das Mädchen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie ihr letzter Tag verlaufen war: Toni wird von ihrer Mutter geweckt, nein, von ihrem Vater. Die Mutter ist zu schwach, sie bleibt morgens im Bett. Toni steht auf und frühstückt, ein Brötchen, nein, Müsli, Tonis Eltern legen wert auf eine gesunde Ernährung, dazu eine Tasse Kakao. Danach putzt sie sich die Zähne und geht in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. Das Kleid. Eigentlich ist es zu kalt für ein Sommerkleid, aber sie möchte es unbedingt anziehen. Es ist ihr Lieblingskleid. Sie zieht eine Strumpfhose darunter, damit Mama keinen Anfall kriegt. Unten an der Treppe wartet Papa.
»Mach schon, beeil dich«, ruft er. »Frau Diercke wartet sicher bereits.« Er sieht das Kleid. »Bist du verrückt, Toni? Zieh dir sofort etwas Wärmeres an! Es sind fünf Grad draußen, willst du dir den Tod holen?«
An diese Worte wird er sich am Abend erinnern wie an einen finsteren Fluch, aber davon ahnt er in dem Moment nichts. Toni läuft schnell wieder hinauf in ihr Zimmer. Sie nimmt den dicken blauen Wollpulli aus dem Schrank und zieht ihn über das Kleid. Jetzt ist sie ja wohl warm genug angezogen. Sie blickt sich im Zimmer um. Hat sie an alles gedacht? Das Handy liegt noch auf dem Schreibtisch. Hastig lässt sie es in ihrer Tasche verschwinden. Eigentlich darf sie es nicht mit in die Schule nehmen. Aber sie schmuggelt es jeden Morgen aus dem Haus. Die anderen Kinder in der Klasse haben schließlich auch alle ihr Handy dabei.
Lydia stockte. Das Handy. Warum hatte niemand früher daran gedacht? Normalerweise wurden bei einem gewaltsamen Tod routinemäßig Mobiltelefon und Computer des Opfers überprüft. Aber in diesem Fall hatten sie nicht daran gedacht. Warum nicht? Weil anfangs alles so sehr nach einem Unfall ausgesehen hatte? Weil das Opfer noch so jung war? Nicht zu jung für ein Handy. Kinder in diesem Alter besaßen doch heute alle eins. Toni war zehn gewesen. Bestimmt war sie keine Ausnahme. Es könnten Nachrichten darauf gespeichert sein. Oder Fotos. Sie wandte sich vom Fenster ab. Gleich morgen früh würde sie bei den Bruckmanns anrufen. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Halb zwölf. Michael Bruckmann konnte bestimmt ebenso wenig schlafen wie sie. Ohne weiter darüber nachzudenken, griff sie zum Telefon.
Er hob nach dem zweiten Klingeln ab. »Bruckmann.«
»Hier ist Lydia Louis von der Kriminalpolizei. Bitte entschuldigen Sie die späte Störung.«
»Sie stören nicht.« Er klang erschöpft, aber nicht schläfrig.
»Ich habe da noch eine Frage, Herr Bruckmann. Hatte Ihre Tochter ein Handy?«
Er schien überrascht. »Ein Handy? Warum fragen Sie?«
»Bitte antworten Sie einfach. Es könnte für die
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