Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
recht schnell in einer Kneipe einen vielversprechenden Kandidaten gefunden, einen unrasierten, schmutzigen Arbeiter mit großen Händen und breiten Schultern, der nur zu gern auf ihre Annäherungsversuche einging. Als er jedoch mit ihr auf der Straße stand, bereit, ihr zu ihrem Wagen oder in irgendein billiges Hotel zu folgen, hatte der Ekel sie plötzlich mit einer ungekannten Intensität überrollt. Panisch hatte sie die Flucht ergriffen, während der Typ ihr eine Reihe derber Beschimpfungen hinterherschickte, von denen »dumme Fotze« noch die netteste war. Sie konnte es ihm nicht einmal übelnehmen.
Zu Hause hatte sie sich in ihr Bett verkrochen, doch der erlösende Schlaf hatte sich, wie so oft, nicht eingestellt. Um fünf hatte sie es nicht mehr ausgehalten. Sie hatte sich unter die Dusche gestellt, zehn Minuten lang heißes Wasser über ihren erschöpften Körper laufen lassen und sich angezogen.
Zwanzig Minuten später schloss sie die Tür zu ihrem Büro auf. Auf dem Schreibtisch herrschte noch das Chaos, das Chris und sie gestern hinterlassen hatten. Keiner von ihnen hatte sich die Zeit genommen aufzuräumen. Verlegen hatten sie ihre Kleider aufgesammelt, sich angezogen und fluchtartig den Raum verlassen.
Lydia riss das Fenster auf, sammelte die Papiere vom Boden auf und schichtete sie zu ordentlichen Stapeln. Sie stellte die Lampe wieder auf und warf die Scherben des zerbrochenen Kaffeebechers in den Müll. Erst als alle Spuren des gestrigen Abends beseitigt waren, fand sie die Ruhe, sich an ihren Schreibtisch zu setzen und den längst überfälligen Bericht zu tippen. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Ihr graute vor dem Moment, wenn Salomon ins Büro kam. Ihre Horrorvorstellung war, dass er mit einem Strauß Rosen auftauchte, ihr einen Kuss auf die Wange hauchte und ein »Morgen, Liebling« ins Ohr flüsterte. Auch wenn sie ihm das nicht zutraute, schaffte sie es nicht, das Szenario ganz aus ihren Gedanken zu verbannen.
Schließlich klopfte es, und sie zuckte erschrocken zusammen. Salomon klopfte gewöhnlich nicht an, aber sie blickte dennoch nervös zur Tür und lächelte im gleichen Augenblick erleichtert, als ein Kollege in Uniform eintrat.
»Gut, dass Sie schon da sind, Frau Louis. Wir haben da etwas reinbekommen. Eine Frau hat den Mann auf dem Phantombild erkannt.«
»Wirklich?«
Der Beamte nickte und reichte ihr ein Blatt. »Sie ist Nachtschwester. Ist eben vom Dienst nach Hause gekommen und hat das Bild in der Zeitung gesehen. Sie sagt, es ist ihr Nachbar, ein Herr Walter Palmerson. Witwer. Wohnt eine Etage unter ihr.«
»Ein Witwer? Ist sie sicher, dass es der Mann ist?«
Der Beamte zuckte mit den Schultern. »Offenbar ja.«
»Gut, danke. Ich fahre gleich mal vorbei.«
»Allein?«
Sie zögerte. »Schick eine Streife hin.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. Bis Salomon kam, dauerte es wohl noch. Damit würde sich die unvermeidliche Begegnung noch etwas hinauszögern. Eine verlockende Aussicht. Einerseits. Andererseits würde sie sie gern hinter sich bringen.
Nachdem der Kollege das Zimmer verlassen hatte, trat sie ans Fenster und starrte hinaus auf die Stadt, die inzwischen zum Leben erwacht war. Wie eine endlose Lichterschlange glitten Autos über die Kniebrücke und ergossen sich als winzige rot leuchtende Punkte in die Straßen.
Gerade als Lydia sich aufraffen wollte, hielt ein VW Beetle auf der Straße vor dem Parkplatz. Lydia glaubte, ihren Augen nicht zu trauen, als sie Salomon auf der Beifahrerseite aussteigen sah. Er ging um den Wagen herum. Auf der Fahrerseite fuhr das Fenster herunter. Salomon beugte sich hinein, zwei Hände umfassten seinen Kopf. Lydia blinzelte fassungslos. Das musste diese Sonja sein. Dieser Mistkerl war also, gleich nachdem er im Büro mit ihr gevögelt hatte, zu seiner Freundin gefahren. So etwas wie Schamgefühl besaß er offenbar nicht. Und sie hatte Angst gehabt, er könnte dem Zwischenfall zu viel Bedeutung beimessen! Wie albern von ihr! Sie spürte Erleichterung in sich aufsteigen, aber auch etwas anderes. Es verletzte sie, dass sie für ihn so nebensächlich war, dass er nach der Begegnung mit ihr ohne zu zögern zur Tagesordnung übergegangen war.
Chris wappnete sich innerlich, als er auf das Gebäude zulief. In seinem Magen lag ein großer Stein. Solange er mit Sonja zusammen gewesen war, hatte er den Gedanken an Lydia gut verdrängen können, doch jetzt bekam er es plötzlich mit der Angst zu tun. Nicht dass er erwartete, dass Lydia
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