Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
draus.«
»Alles okay?«
»Ja, natürlich.« Er hörte die Irritation in seiner Stimme, doch es gelang ihm nicht, sie zu unterdrücken. Warum musste sie auch ausgerechnet jetzt anrufen?
»Hört deine Kollegin mit?«
»Sozusagen.«
»Ich verstehe.«
»Es ist wirklich ein ungünstiger Zeitpunkt. Ich rufe dich heute Abend an, einverstanden?«
»Einverstanden.«
In dem Augenblick kam Lydia mit den zwei Pizzakartons aus dem Laden. Rasch unterbrach er die Verbindung und stopfte das Handy zurück in seine Jacke. Es hatte angefangen zu schneien, und winzige Flocken landeten auf Lydias Haar, ihrem grünen Parka und den bunt bedruckten Kartons. Geistesabwesend betrachtete Chris sie, sah für den Bruchteil einer Sekunde nicht die zähe, abgebrühte Ermittlerin, sondern die verletzliche Frau vor sich, von der Lydia sonst nichts preisgab.
»Ist was?«, fragte sie.
»Steht dir gut.«
»Was? Die Pizzakartons?«
Er lächelte. »Der Schnee.«
Sie verdrehte die Augen, drückte ihm die Kartons in die Hand und marschierte zum Wagen. Wortlos schlangen sie die Pizza herunter. Als sie fertig waren, bedeckte eine hauchdünne Schneeschicht das Auto.
Lydia startete den Motor und stellte den Scheibenwischer an. »Auf geht’s.«
Fünfzehn Minuten später hielten sie vor dem Haus der Familie Diercke. Kerstin Diercke schien nicht sonderlich erfreut über ihren Besuch.
»Ist es wirklich nötig, dass Sie das Kind noch einmal so durcheinanderbringen? Nach Ihrem letzten Besuch war sie völlig verstört.«
»Wir müssen trotzdem mit ihr sprechen, Frau Diercke«, sagte Lydia knapp. »Es ist wichtig.«
»Aber sie hat Ihnen doch alles gesagt, was sie weiß.«
»Eben da sind wir uns nicht so sicher.«
Kerstin Diercke öffnete den Mund, doch sie sagte nichts. Wortlos zog sie die Wohnungstür auf. In der Essecke stand noch das Mittagsgeschirr.
»Jan!«, rief sie über die Schulter. »Jan, habe ich nicht gesagt, dass du abräumen sollst?« Sie drehte sich zu Chris und Lydia um. »Ich sage Nora Bescheid. Bitte warten Sie hier.«
Sie verschwand im Flur und öffnete die Tür mit dem rosa Namensschild.
Die Wohnzimmertür sprang auf, und Jan Diercke erschien. Er würdigte sie keines Blickes und begann, die Teller zusammenzustellen.
»Sie können jetzt kommen.« Kersten Diercke war lautlos zurückgekehrt.
Diesmal lag Nora auf dem Boden und malte. Die Stifte waren auf dem Teppich verstreut, ihr Bild zeigte drei Mädchen auf einer Wiese. Sie trugen Jeans und bunte T-Shirts, rekelten sich im Gras und lachten ausgelassen. Zwei der Mädchen hatten lange blonde Haare, das dritte braune. Irgendetwas an den Mädchen sah merkwürdig aus, doch Chris hätte nicht sagen können, was. Vielleicht lag es daran, dass Nora die Proportionen nicht genau getroffen hatte. Die Köpfe waren im Verhältnis zu den Körpern riesig.
Chris hockte sich auf den Boden und ergriff die Gelegenheit. »Sind das Antonia und du?«
»Kann sein.«
»Und das dritte Mädchen. Wer ist das?«
»Weiß nicht. Irgendeine Freundin.«
»Das ist bestimmt Pia«, sagte Kerstin Diercke. »Sie geht in Noras Klasse und spielt manchmal mit den beiden. Spielte, meine ich.« Sie kniete sich neben Nora. »Das bringt mich auf eine Idee. Wir könnten Pia doch einladen. Ihr könntet ein bisschen zusammen spielen. Was meinst du, Nora?«
Nora antwortete nicht.
»Also ich glaube, dass das auf dem Bild gar nicht Pia ist«, sagte Chris langsam. »Ich finde, sie sieht aus wie Leonie.«
Nora fuhr herum und starrte ihn an. »Du kennst Leonie?«
»Sie ist eure Freundin, deine und Tonis«, erwiderte er. »Stimmt’s?«
Nora wandte sich ab und malte weiter an der grünen Wiese. Sie achtete nicht auf die drei Figuren im Gras, sondern übermalte das ganze Blatt, so als rolle eine grüne Flutwelle über die Mädchen hinweg.
»Wann habt ihr Leonie denn kennengelernt?«, fragte Lydia. Sie war als Einzige stehen geblieben.
»Ich weiß nicht.«
»Bitte, Nora«, sagte Kerstin Diercke sanft. »Du musst den beiden Kommissaren sagen, was du weißt. Kennt ihr diese Leonie vielleicht aus dem Reitunterricht?«
»Die beiden reiten?«, fragte Chris.
»Nicht mehr.« Kerstin Diercke seufzte. »Sie haben im Herbst ein paar Stunden genommen. Doch dann ist eins der anderen Mädchen vom Pferd gestürzt und hatte eine Gehirnerschütterung. Daraufhin hat Tonis Mutter es nicht mehr erlaubt. Sie hatte Angst, dass ihrer Tochter etwas zustößt.«
Einen Augenblick lang war es still im Zimmer, nur das Kratzen des
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