Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Verständlich, dass sie vor Sorge verging, weil das zweite ebenfalls kränkelte.
Schwarzbach krakelte etwas auf einen Zettel und reichte ihn Lydia. Er trat mit ihr ins Freie und zog die Tür hinter sich zu.
»Ich muss Ihnen noch etwas sagen«, raunte er. »Meine Frau ist krank.«
Lydia blinzelte verwirrt.
»Nicht körperlich«, erklärte Schwarzbach, »psychisch. Haben Sie schon mal etwas vom Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom gehört? Frauen, die Ihre eigenen Kinder krank machen?«
Ungläubig nickte Lydia. Ein Gedanke begann sich in ihrem Kopf zu formen, doch Schwarzbach ließ ihr keine Zeit, ihn zu Ende zu denken.
»Leonie ist krank, weil Melanie sie krank macht, verstehen Sie? Deshalb wohnt sie im Augenblick nicht bei uns. Melanie muss eine Therapie machen. Vorher kann Leonie nicht zurück nach Hause.«
»Haben Sie denn Hilfe?«, fragte Lydia.
»Ja. Ich habe mich an eine Organisation gewandt. Die haben auch die Pflegefamilie für Leonie gefunden.« Er fuhr sich durch das dünne, blonde Haar. »Das Jugendamt ist natürlich informiert.«
»Und Ihre Frau …«
»Sie steht am Anfang eines sehr schweren Weges. Das haben die von der Organisation auch gesagt. Aber wir schaffen das.« Er machte ein zuversichtliches Gesicht, doch Lydia sah die Angst in seinen Augen.
Eine weitere Frage formte sich in ihrem Mund, die sie kaum zu stellen wagte. »Ihre andere Tochter, Svenja …«
»Svenja starb an einem Tumor«, unterbrach Schwarzbach sie. »Daran gab es nie einen Zweifel.«
»Ja, natürlich.« Lydia betrachtete den Zettel. Eine Adresse im Bergischen Land, kaum zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt.
»Meine Frau weiß nicht, wo Leonie sich aufhält«, erklärte Olaf Schwarzbach. »Wir haben entschieden, dass es besser so ist.«
»Ich verstehe.« Lydia wandte sich ab und ging auf den Toyota zu. Sie wusste, dass sie etwas zum Abschied sagen sollte, etwas Tröstliches oder Mut machendes. Aber wie schon bei Kerstin Diercke fehlte ihr die Kraft dazu.
Sie stieg ein und schaute auf die Uhr. Zwanzig vor elf. Zu spät, um einen Abstecher ins Bergische Land zu machen. Sie blickte noch einmal zu dem Haus. Verglichen mit der Trostlosigkeit, die im Inneren herrschte, erschien die Fassade geradezu einladend fröhlich.
Chris sprang auf, als Lydia endlich im Büro auftauchte. Weynrath erwartete sie seit einer halben Stunde, und seine Laune wurde von Minute zu Minute unerträglicher. Chris hatte sich gewundert, dass der Chef überhaupt sonntags im Haus war. Doch er hatte nicht gewagt, Weynrath darauf anzusprechen. Dazu kam, dass er keine Auskunft darüber erteilen konnte, wo Lydia steckte. Sie war offenbar schon im Büro gewesen, ihr Computer war angeschaltet, doch sie hatte keine Nachricht hinterlassen, und auf ihrem Handy meldete sich nur die Mailbox.
»Wo hast du gesteckt? Der Chef hat Sehnsucht nach uns.«
Lydia verdrehte die Augen. »Jetzt?«
»Wir sollten ihn besser nicht noch länger warten lassen. Ich habe die Besprechung bereits verschoben. Okay?«
Lydia stöhnte. In knappen Worten berichtete sie, was sie von Kerstin Diercke und den Schwarzbachs erfahren hatte.
Chris schüttelte sich. »Wie schrecklich. Hast du die Schwarzbachs nicht auf die Diebstähle angesprochen?«
»Die hätten nur weiter geblockt. Ich spreche lieber mit Leonie selbst. Jetzt habe ich ja ihre Adresse.«
»Ich war übrigens auch nicht ganz untätig. Ich habe mir noch mal die Sachen aus Antonias Zimmer angesehen.«
»Und?«
»Das einzig Auffällige ist ein Grundriss des Hauses, der im Müll war.«
»Von Toni gezeichnet?«
»Ja. Sonja meint, er könnte für jemanden bestimmt gewesen sein, der sich in Tonis Abwesenheit im Haus zurechtfinden sollte.« Mist! Das hätte er nicht sagen sollen. Er biss sich auf die Zunge.
»Du redest mit deiner Freundin über die Ermittlungen, Salomon?«
Sie klang ruhig, doch er spürte, dass es in ihr brodelte.
»Tut mir leid. Ich habe ihr nur von dem Grundriss erzählt. Ich wollte wissen, ob sie als Mädchen vielleicht auch so was gezeichnet hat. Um besser einordnen zu können, ob das wichtig sein könnte.«
Lydia sah ihn an und sagte nichts.
Chris spürte eine andere Frage zwischen ihnen aufsteigen. Hatte er Sonja auch von dem erzählt, was Freitagabend geschehen war? Der Schweiß brach ihm aus. Scheiße.
»Wir sollten uns zu dem Giftzwerg aufmachen«, sagte Lydia. »Bevor er sich in eine stinkende grüne Dampfwolke verwandelt.«
Vor Weynraths Tür drehte Lydia sich zu ihm um. »Du weißt nicht
Weitere Kostenlose Bücher