Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Diercke an, die unsicher eine lange Haarsträhne hinter das Ohr strich. Nase und Wangen waren von der Kälte gerötet. Ihre Augen blickten unruhig im Zimmer hin und her.
»Was kann ich für Sie tun, Frau Diercke?«
Die Frau zögerte. »Sie haben doch diesen Mann verhaftet.«
Lydia erwiderte nichts.
»Ist er der Täter?«
»Dazu kann ich Ihnen wirklich nichts sagen. Sind Sie gekommen, um mich das zu fragen?«
Kerstin Diercke senkte den Blick. »Natürlich nicht. Sie müssen mich für schrecklich neugierig halten. Ich dachte nur – na ja, wenn der Fall gelöst wäre, bräuchte ich Sie mit dem, was ich Ihnen erzählen wollte, nicht mehr zu behelligen.«
Lydia unterdrückte ein Stöhnen. Die zweite Frau an diesem Morgen, die erst über tausend Umwege zur Sache kam. »Behelligen Sie mich, Frau Diercke.«
Kerstin Diercke hob eine Tüte an, die Lydia zuvor nicht aufgefallen war. Sie nahm einen Schuhkarton heraus und stellte ihn auf Lydias Schreibtisch ab. »Das habe ich heute in Noras Schrank gefunden. Es sind hauptsächlich Schminksachen und Süßigkeiten. Gestohlen.«
Lydia starrte überrascht auf den Karton, doch sie sagte nichts.
»Nora hat mir gesagt, dass diese Leonie sie und Toni dazu angestiftet hätte, diese Sachen zu stehlen.« Kerstin Diercke tippte nervös mit den Fingerspitzen auf den Karton. »Normalerweise hätte ich das mit meiner Tochter geregelt, ohne die Polizei einzuschalten. Sie hätte alles zurückgeben und sich bei den Ladeninhabern entschuldigen müssen. Diese Prozedur ist so demütigend, dass es ihr eine Lehre gewesen wäre. Zumindest hat es bei meinem Sohn funktioniert – bis er auf die nächste Dummheit verfallen ist.« Sie schob den Karton weg. In ihre nun fester klingende Stimme hatte sich Resignation gemischt. »Aber weil doch Toni dabei war«, fuhr sie fort, »dachte ich, Sie müssten es wissen.«
Lydia hob den Deckel des Kartons an und spähte hinein. Soweit sie erkennen konnte, lag der Wert des Inhalts deutlich unter zweihundert Euro. »Benutzt Ihre Tochter denn schon Schminke?«
»Nein, natürlich nicht. Abgesehen von Nagellack, da sind alle Mädchen ganz wild drauf. Ansonsten schminkt sie sich höchstens mal, wenn sie spielt.« Kerstin Diercke seufzte. »Ich glaube nicht, dass es um die Sachen selbst ging. Die lagen ja unangetastet im Schrank. Es ging um das Klauen. Die Mutprobe. Den Kick. So was in der Art.« Sie hob hilflos die Schultern.
Lydia nickte nachdenklich. »Danke, dass Sie mich informiert haben, Frau Diercke.«
»Meine Tochter hat so etwas vorher noch nie getan«, sagte Kerstin Diercke mit Nachdruck. »Sie hat das auch gar nicht nötig. Sie bekommt so viel extra neben ihrem Taschengeld: Ihre Oma kauft ihr jede CD, die sie sich wünscht, ihr Bruder bringt ihr ständig etwas Süßes mit, ihr Vater deckt sie mit Klamotten ein, wenn er mit ihr in die Stadt geht. Er kauft ihr modische Blusen und Tops, die sie von mir nicht bekommen würde.« Wieder seufzte sie. »Ich weiß auch nicht, was in sie gefahren ist.«
Lydia fiel keine passende Antwort ein.
»Ja, ich gehe dann mal.« Kerstin Diercke stand auf.
»Es könnte sein, dass wir noch einmal mit Nora sprechen müssen«, sagte Lydia.
Kerstin Diercke nickte und verließ grußlos das Büro. Lydia starrte auf die Tür. Vermutlich hatte die Frau sich mehr Mitgefühl von Lydia erhofft, ein paar aufmunternde Worte; dass viele Kinder und Jugendliche in einer Phase ihres Lebens ausprobierten, was für ein Gefühl es war, im Laden etwas mitgehen zu lassen. Dass sie deswegen noch lange nicht auf die schiefe Bahn geraten mussten. Doch Lydia hatte keine Lust gehabt, der Frau ihre Schuldgefühle zu nehmen. Sie betrachtete das Diebesgut. Vermutlich war es für den Fall bedeutungslos, auch wenn es für Kerstin Diercke eine persönliche Katastrophe darstellte. Andererseits zeigte sich damit ein weiterer Riss in der heilen Welt der Familie Bruckmann, die inzwischen verdammt viele Risse hatte.
Und schon wieder ein Hinweis auf diese merkwürdige Leonie. Zeit, mit dem Mädchen zu sprechen. Lydia stand auf. Statt blöd hier herumzusitzen, konnte sie auch der Familie Schwarzbach einen Besuch abstatten. Und diesmal würde sie sich nicht abwimmeln lassen. Nicht bevor sie wenigstens einen Blick auf das Mädchen geworfen hatte.
Bei Tageslicht wirkte das Haus noch trostloser als bei Dunkelheit. An der Fassade bröckelte der Putz, am Garagentor blätterte die grüne Farbe ab. Lydia parkte wieder in der Einfahrt. Sie musste zweimal
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