Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
»War sie hier? Bei uns im Haus?«
»Es ist möglich«, antwortete Lydia. »Die beiden Mädchen sind sich irgendwann im Herbst über den Weg gelaufen. Wir wissen nicht, was dann passiert ist. Vielleicht haben die beiden versucht, eine Erklärung zu finden, warum sie sich so ähnlich sehen. Antonia hat jedenfalls angefangen, sich für ihre Herkunft zu interessieren. Das haben Sie uns erzählt. Es ist möglich, dass Leonie Ihre Tochter besucht hat, dass sie hier im Haus war.«
Michael Bruckmann blickte von Lydia zu Chris. In seinen Augen blitzte etwas. Hoffnung.
»Dann ist es möglich, dass …« Er schaute zu seiner Frau und verstummte.
»Es ist möglich«, antwortete Chris leise. »Aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht sehr wahrscheinlich.«
Nicole Bruckmann hatte die Andeutung ihres Mannes offenbar nicht begriffen. Sie schien nicht einmal zugehört zu haben. Unverwandt betrachtete sie das Foto.
»Es war nicht richtig, die beiden zu trennen«, sagte sie mit bebender Stimme. »Ich hatte immer das Gefühl, dass Antonia etwas fehlt. Ich nahm an, es sei ihre leibliche Mutter. Ich dachte, irgendwie spürt sie, dass sie nicht richtig zu uns gehört.«
»Quatsch!«, stieß Bruckmann hervor. »Natürlich hat sie zu uns gehört. Sie war unsere Tochter, wir haben sie großgezogen.«
Nicole Bruckmann ignorierte ihren Mann. »Da war etwas. Eine unerklärliche Traurigkeit. Jetzt weiß ich, was ihr gefehlt hat. Sie hat ihre Schwester vermisst. Ihre Zwillingsschwester.«
21
Olaf Schwarzbach betrachtete seine Tochter, wie sie bis zum Hals zugedeckt in dem viel zu großen Hotelbett lag. Obwohl ihre Augen geschlossen waren, wusste er, dass sie nicht schlief. Dazu war ihre Haltung zu verkrampft, ihr Atem zu flach und unruhig. Sie hatte Angst. Und er konnte es ihr nicht verdenken. Er hatte selbst Angst. Doch seine Angst war gepaart mit etwas anderem, einem merkwürdigen Gefühl der Sicherheit, der Endgültigkeit, das ihm eine fast unheimliche innere Ruhe verlieh. Alltägliche Dinge wie der Stapel Rechnungen auf seinem Schreibtisch oder die schlechte Auftragslage seiner Firma hatten ihre Wichtigkeit verloren. In seinem Leben gab es nur noch seine Tochter Leonie. Niemand würde sie ihm wegnehmen, niemand würde ihn von seiner Tochter trennen, egal wie hoch der Preis dafür war.
Das Schicksal hatte ihm Svenja geraubt, und nun auch Melanie. Leonie würde er nicht hergeben. Wenn er sie nicht behalten durfte, bekam sie auch niemand anders. Leonie gehörte ihm, ihm allein. Sie war seine Tochter, er hatte sie großgezogen. Sollten sie doch mit irgendwelchen Tests nachweisen, dass zwei wildfremde Menschen Leonie gezeugt hatten; das bedeutete nichts. Er hatte sie durchs Haus getragen, wenn sie nachts Koliken hatte, sie getröstet, wenn sie mit dem Fahrrad gestürzt war, und an ihrem Bett gewacht, wenn sie fieberte. Sie war seine Tochter.
Eigentlich sollten sie längst in den Niederlanden sein, weit hinter der Grenze, oder schon in Frankreich. Doch gestern auf der A 52 hatte er das Radio eingeschaltet und in den Nachrichten gehört, dass die Polizei bereits nach ihnen suchte. Da war er kurz vor Roermond abgefahren. Das Risiko, an der Grenze von der Polizei abgefangen zu werden, war ihm zu groß gewesen. Er wusste, was für einen Aufwand die Behörden betrieben, wenn ein Kind in Gefahr schien. In Gefahr! So schnell wendete sich das Schicksal. Von einem Tag auf den anderen hatte er sich für die Welt vom liebevollen Vater in einen gefährlichen Entführer verwandelt. Und in einen Mörder.
Aber was hätte er denn tun sollen? Melanie hatte sich nicht beruhigt. Er hatte den Irrsinn in ihren Augen gesehen und nicht begriffen, warum sie so plötzlich durchgedreht war. Bis er das Foto in der Zeitung entdeckte. Das Foto von dem anderen Mädchen, das genauso aussah wie Leonie. Melanie musste gedacht haben, dass Leonie tot war und er es vor ihr geheim gehalten hatte; dass er sie angelogen hatte und Leonie gar nicht bei einer Pflegefamilie war. In ihrem Schock und in ihrem Wahn hatte sie nicht mehr klar denken können, hatte sie nicht gesehen, dass das Mädchen in der Zeitung bereits tot gewesen war, als Leonie noch zu Hause in ihrem Bett lag; dass dieses Mädchen einen anderen Namen hatte, und Eltern, die es betrauerten. Sie hatte nur das Bild vor Augen, das Gesicht ihrer Tochter, die von einem Tag auf den anderen aus ihrem Leben verschwunden war.
Immerhin war er so geistesgegenwärtig gewesen, die Zeitung verschwinden zu lassen, bevor die Polizei
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