Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
stimmt nicht«, erwiderte Lydia scharf. »Sie haben ihr sehr wohl etwas getan.«
»Das ist doch etwas ganz anderes!«
Chris gelang es nicht, einen empörten Aufschrei zu unterdrücken.
Doch Bruckmann hörte ihn offenbar nicht, sondern sah ihn hilfesuchend an. »Bitte, Sie müssen mir glauben. Ich hätte ihr nie etwas antun können. Sie war doch meine Tochter.«
»Eben das stimmt nicht.« Lydia verschränkte die Arme.
»Sie war meine Tochter«, widersprach Bruckmann. Er klang, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Für mich hat es keinen Unterschied gemacht, dass sie nicht mein Fleisch und Blut war.«
Lydia ließ ihn nicht vom Haken. »Am Anfang vielleicht. Aber als sie anfing, aufsässig zu werden, haben Sie da nicht manchmal darüber nachgedacht, was für schlechte Gene sie mitbekommen hat? Ob sie vielleicht die Tochter einer Verbrecherin war? Einer Drogensüchtigen oder einer Prostituierten? Haben Sie sich vor Antonia geekelt? Haben Sie sie gehasst?«
»Quatsch!« Bruckmanns Gewissensqualen schlugen in Empörung um. »Warum unterstellen Sie mir so etwas? Haben Sie denn gar kein Mitgefühl?«
Lydia lehnte sich zurück, ihre Augen wurden zu Schlitzen. »Sie haben die Leiche ihrer Tochter geschändet, wenige Minuten nach ihrem Tod. Schlimmer noch: Sie konnten überhaupt nicht wissen, ob sie wirklich tot war. Ihr Körper war noch warm, bestimmt sah sie aus, als würde sie nur schlafen.« Sie fixierte ihn. In ihrem Blick lag Verachtung. »Und das einzig und allein auf die vage Vermutung hin, Ihre Frau könnte die Beherrschung verloren und Toni geschubst haben? Dabei war Ihre Frau nicht einmal im Haus. Ich finde, man muss ganz schön kaltschnäuzig sein, um so etwas fertigzubringen. Herzlos. Und paranoid. Es wäre doch viel plausibler, wenn Sie so gehandelt hätten, um Ihre eigene Tat zu vertuschen.«
Bruckmann war bei den Worten »kaltschnäuzig« und »herzlos« zusammengezuckt, seine Empörung war verflogen. Er wirkte mit einem Mal müde.
»Ich habe Toni nicht getötet«, sagte er leise. »Mir ist klar, was Sie von mir denken, und ich nehme es Ihnen nicht übel. In Ihren Augen bin ich vermutlich ein Unmensch. Aber ich sage die Wahrheit: Ich habe mein Kind nicht getötet. Als ich nach Hause kam, war sie bereits tot. Ich sah sie da liegen und habe einfach die Nerven verloren.«
Schweigen breitete sich aus. Chris spürte Lydias fragenden Blick, doch er wusste auch keine Antwort. Er war geneigt, Bruckmann zu glauben, obwohl er ihn gleichzeitig verabscheute.
Ihm fiel noch etwas ein. »Wieso haben Sie es Ihrer Frau gerade jetzt gestanden?«
Michael Bruckmann sah ihn an. »Wegen – wegen des anderen Mädchens. Leonie. Ich dachte, es könnte doch sein, dass – dass Toni gar nicht tot ist. Dass es das andere Mädchen war.« Tränen standen in seinen Augen. »Das war nicht meine Tochter. Bestimmt nicht. Es muss diese Leonie gewesen sein.«
Chris’ Abscheu bröckelte, als er beobachtete, wie Bruckmanns Gesicht hoffnungsvoll aufleuchtete. Jäh sah er Annas strahlend blaue Augen vor sich, hörte ihr Lachen. Schnell schob er das Bild beiseite. »Warum sind Sie da plötzlich so sicher?«
»Ich weiß nicht«, wisperte Bruckmann. Seine Worte waren kaum zu verstehen. »Es ist nur so ein Gefühl.«
»Sie haben also keine konkreten Anhaltspunkte für Ihren Verdacht?« Chris kämpfte noch immer mit dem Bild in seinem Inneren. Ihm war schwindelig, sein Magen zog sich zusammen. Es war, als schließe die Hoffnung, die Bruckmann empfand, ihn mit ein. Wenn es für Toni noch eine Chance gab, warum nicht auch für Anna?
»Nein«, antwortete Bruckmann. »Es ist nichts Konkretes. Ich habe auch nicht darauf geachtet. Ich wusste ja nicht, dass Toni eine Doppelgängerin hatte. Aber es wäre doch möglich, oder?« Er warf Chris einen beschwörenden Blick zu.
Chris schluckte, versuchte die Achterbahn in seinem Inneren anzuhalten. »Sie wünschen sich, dass nicht Toni gestorben ist, sondern das andere Mädchen«, sagte er mit warmer Stimme und versuchte, Lydias ärgerlichen Blick zu ignorieren. »Ich verstehe das sehr gut.«
Lydia räusperte sich. »Hatte Ihre Tochter unverwechselbare Merkmale, Herr Bruckmann? Eine Narbe vielleicht?«
Bruckmann starrte auf den Tisch. »Ich glaube nicht.«
»Sie glauben? Das müssten Sie doch wissen!« Lydia schüttelte den Kopf.
»Mir fällt nichts ein.« Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Sie hatte keine Operationen. Und auch kein auffälliges Muttermal.«
»Schade.« Lydia
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