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Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Titel: Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pia Solèr
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Die Winde sorgen immer wieder für Überraschungen.
    Einmal war ein Reporter vom Radio auf der Ziegenalp. Er wollte im romanischen Sender eine Reportage über Geissen machen. Da die Ziegen auf der Weide blieben, musste ich erst am Nachmittag losziehen. Ich war froh, endlich gehen zu können und dem Reporter nicht begegnen zu müssen. Gabriel, der Senn, war ja da. Am Abend blieb ich extra lange auf dem Berg, doch der Reporter hatte Geduld und wartete. Ich war noch nicht bei der Hütte angelangt, als er schon mit dem Mikrofon auf mich zukam. Ich weiss nicht mehr genau, was für Fragen er alles stellte, nur eine ist mir geblieben: »Warum zieht es dich jeden Sommer auf die Alp?« Ich sagte: »Es bedeutet Freiheit für mich.« Er fragte weiter: »Freiheit, wenn du Zeiten einhalten musst, jeden Tag melken, immer da sein?« Da war ich sprachlos. Die Freiheit, die ich fühle, hat keine Worte.
    Meine Mutter verfügt über meine Konten und bezahlt für mich die Rechnungen, die im Sommer fällig sind. Meine Freiheit besteht darin, dass ich deswegen nicht ins Dorf muss und praktisch den ganzen Sommer kein Geld oder Karten in der Hand habe. Eine Wohltat. Diesen Sommer erhielt ich 50 Franken per Post auf die Alp. Briefe oder Pakete bringt meine Schwester bis Vanescha, legt sie in die Hütte, und ich hole sie irgendwann. Oder Besuch bringt die Post bis Scharboda. Da ich den Geldbeutel daheim vergessen hatte, fand der 50-Franken-Schein einen Platz in der homöopathischen Apotheke, und da war er noch vor einer Woche, als ich ein Mittel brauchte. Jetzt im Dorf kann ich ihn gut gebrauchen.
    Vielleicht ist meine Freiheit auch eine Freiheit, wie sie die Gemsen fühlen. Denn ich habe kein Bedürfnis nach Dorf oder Stadt. Ich kaufe vor dem Sommer so viel ein, dass auch der Einkauf wegfällt. Das ist wohl eine extreme Neigung von mir, denn ich kenne keine anderen Hirten, die nie ins Dorf zum Einkauf gehen. Ach doch, die Marion. Dafür machen wir aber gerne Ausflüge in die Berge.
    Die Kleidung muss funktionell sein. Wasserdicht, wenn es warm ist, leicht. Das Wichtigste aber sind gute Schuhe, Stecken und Feldstecher. Der Hirte muss nur sich selber und den Tieren gefallen, und die legen keinen Wert auf Mode und den letzten Schrei. Wenn der Hirte gut zu den Tieren ist, ist das Tier gut zum Hirten.
    Termine gibt es auch auf der Alp. Tiere und Tage bestimmen sie. Und doch bin ich dabei frei. Ich kann die Tage gestalten, wie ich will. Ich darf die Tiere so hüten, wie es mir gut scheint. Jeder Hirte hütet anders. Und niemandem kann man es recht machen. Doch solange ich die Meinungen anderer nicht höre, bin ich frei wie ein Vogel. Ich habe meine Idee und andere ihre. Ich sammle Erfahrungen und versuche, aus ihnen das Beste zu machen. Meine Sorge ist das Wohl der Tiere, vor allem während der Alpzeit. Ich zweifle auch oft, ob ich es richtig mache.
    Was würde ein Psychoanalytiker zu meiner Freiheit sagen? Schon die Frage engt ein. Bestimmt würde er einen Knacks feststellen. Für mich ist die Alp ein Eintauchen in die Natur, ich werde selber zur Natur. Es ist ein zu mir selber Kommen. Natürlich gibt es viele Menschen in der Umgebung, die mein Leben in Frage stellen. Als ich letzten Herbst erst im November aus Vanescha raus gekommen bin, hörte ich, was die Leute so erzählen. Bis Ilanz ging das Gespräch über diese Frau, die ewig lang in der Wildnis lebt. Ich musste fast lachen. Dachte, ich bin da alleine, sehe kaum einen Menschen und sorge trotzdem für Gesprächsstoff. Abgeschieden und doch im Zentrum.
    Heute waren Orsus und Treuia ineinander gefangen. Nun ist es doch passiert – es murkst mich. Hätte ich nur die Hose angezogen heute Morgen. Jetzt ist es zu spät, der Trieb war stärker.
    Im Dorf und in den verschiedenen Weilern gibt es die tabla nera, das schwarze Brett, auf dem die Nachrichten verkündet werden. Zum Beispiel, dass der Laden neue Öffnungszeiten hat. Heute gab’s deswegen eine Diskussion im Laden. Eine Frau meinte, auf die tabla nera schaue sie nicht mehr. Ich antwortete: »Nächstes Mal werden die Angaben im Internet publiziert.« Eine Jüngere war begeistert, zwei ältere Damen waren dagegen.
    Geschichtenerzähler kenne ich aus Büchern und aus Vanescha. Wir, die wenigen Einwohner, sassen am Abend beim Ältesten in der Stube. In den 28 Jahren, in denen ich hier bin, haben die Ältesten gewechselt. Zuerst gingen Zelistin, Emil, mein Vater und ich zum Sep Antoni, der Solarlicht hatte. Danach waren Emil und ich beim

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