Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen
Zelistin. Jetzt sind wir bei mir, und Emil kommt, obwohl er älter ist. Beim Zelistin waren es die Jagdgeschichten, die ich besonders mochte. Verwandtschaften waren Emils Lieblingsthema. Zelistin durfte den letzten Adler schiessen, bevor sie geschützt wurden. Die Frauen schauten, als ich mit dem Adler auf dem Rücken durchs Dorf lief. Sie hatten Angst vor seinen Krallen.
Oft habe ich die Adler beobachtet. Auf dem Geissenberg konnte ich mit dem Feldstecher ihren Horst sichten. Ich sah, wie der weiss geflügelte Kleine die ersten Flügelschläge machte. Plötzlich war er dann grösser als die Eltern und machte seine Erfahrungen. Einmal fand ich auf der Weide eine Feder, die wie eine Blume da stand und noch fast körperwarm war. Das sind grosse Geschenke für mich.
Auf der Alp habe ich eine kleine Solarlampe, aber Kerzen gehören für mich mit dazu. Im ersten Sommer auf der Schafalp hatte ich dünne Kerzen mit dabei, die mehr Licht als alle anderen spenden, aber mir fehlte der Kerzenständer. Auf dem Weg nach Puozas fand ich einen Stein mit einer Vertiefung, die für die Kerzen genau passte: Ein kleines wunderbares Wunder und schön. Steine faszinieren mich. Die von Erosionen geprägten Formen, die Klarheit der Kristalle, ihr ewiger Schimmer. Als eine Freundin bei mir war, sagte sie, als wir durch einen Steinweg liefen: »Dieses Glitzern der Steine, das ist speziell auf deiner Alp.« Sie hat Permafrost verloren, die Steine haben sich gelöst und sind zu Tale gepoltert. Es ist eine steinreiche Alp.
Es gibt ein paar mystische Orte da oben. Du läufst über riesige Steine und hörst irgendwo in der Tiefe Wasser rauschen. Da liegt ein See, umringt von Schnee, die sanften Wellen schimmern in der Sonne. Manchmal löst sich ein Stein. Winzige Blumen in rezenten Farben erzählen von Liebe.
In Vanescha fühlen sich nicht alle wohl. Zum Beispiel die Bauern von Puzatsch. Ihr Maiensäss ist nicht so weit weg vom Dorf und nicht so wild und abgelegen. Sie haben mehr Betrieb. Aber auch dort sind die Originellen fast ausgestorben, wie in Vanescha auch. Im Frühling sind es mein Vater, Emil und ich, und im Herbst nur noch Emil und ich, die da wohnen. Einmal am Tag kochen wir auf dem Feuer, mal Emil, mal ich. Unsere Häuser sind nebeneinander gebaut, und so rufen wir uns durch die Wand zum Mittagessen oder Abendessen. Wir helfen einander auch bei den Arbeiten, die anstehen. Abzäumen, Kühe, die stierig sind, zum Besamen in den Stall bringen und so weiter. Früher, als noch Milchkühe da waren, haben wir beim Linus in der Küche gekäst und Butter gemacht. Jetzt haben wir nur noch meine Milchziegen, die uns Milch schenken, und daraus gibt es Vollmilchzieger, keinen feinen Rahm mehr wie von Milchkühen.
Meine Mutter hat wieder Schmerzen in den Gliedern.
Als Kind sah ich beim Heuen, wie meine Mutter während des Mähens mit der Sense immer wieder Kräuter in den Sack steckte und daraus später für uns Tee kochte. Wenn ich hüte und das Wetter trocken ist, bin auch ich am Sammeln. Die beste Zeit dafür ist im Mai, dann sind die Kräuter zart und voller Saft. Danach werden sie getrocknet, und im Winter gibt es Tee. Manchmal schaue ich auch auf den Mondstand. Wenn ich die Kräuter in Gläser fülle, muss der Mond abnehmend sein, sonst besteht die Gefahr, dass sie im Glas verfaulen. Es gibt auch Kräuter, die erst im Sommer gedeihen, wie Johanniskraut. Diesen feinen Tee zu trinken, hilft gegen Wehmut. Im Herbst kommt dann die Schafgarbe, die sich auch als Kaugummi eignet. Ein wenig bitter hilft sie gegen Kopfschmerzen und Magenleiden. Mit Iva, einem seltenen Kraut, das erst über 2000 Meter gedeiht, kann man grünen Schnaps machen. Er ist gut für den Magen und zum Trinken. Eine Wiese hatten wir ganz oben, da hatten wir Edelweiss in Scharen gemäht. Mmh, was für ein Dessert für die Ziegen im Winter!
Doch dann kam die Melioration, bei der viele zerstreute Felder zusammengelegt wurden. Jetzt gibt es nur noch grosse Felder und der Stress hat zugenommen. Auch die Bauernhöfe waren früher kleiner. Das Heu wurde in die höher gelegenen Ställe gebracht, und die Bauern gingen im Winter hoch zum Füttern. Oft schliefen sie in den Ställen mit den Tieren bis Januar oder Februar, erst dann kamen sie zurück ins Dorf. So auch mein Vater. Irgendwie war alles viel härter, und doch hatten die Menschen mehr Zeit. Damals ergab sich immer ein Gespräch mit den Nachbarn. Im Winter beim Futtern versammelten sich die Bauern am Abend in einer Hütte
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